Full text: Regierung und Volkswille.

Fehler im Majoritäts-System. 19 
im Staate gibt, als die Masse, so ist es nur natürlich, daß 
das Majoritãtsprinzip, auch wo man es formell aufgestellt 
hat, doch sehr häufig umgangen worden ist, besonders aber, daß 
manche Epochen der Geschichte es gar nicht gekannt haben. 
Ich werde noch darauf zurückkommen. 
Schon in dem Augenblick, wo man in England durch 
die zweite Parlamentsreform (1867) dem Ideal einer demo- 
kratischen Volksrepräsentation nahegekommen war und man 
voraussetzen konnte, daß das noch Fehlende in absehbarer 
Zeit nachfolgen würde, wurde man stutzig und warf die 
Frage auf, ob auf dem Wege der Wahl von Abgeordneten 
durch eine Majorität der Wille des Volkes überhaupt zum 
Ausdruck gebracht werde. Die beiden hervorragendsten Ver- 
treter des demokratischen Stimmrechts in England waren 
der Philosoph Stuart Mill und der Historiker Grote, dessen 
umfassende griechische Geschichte noch heute einen gewissen 
wissenschaftlichen Wert hat. Gerade in dieser seiner griechischen 
Geschichte hatte er seine demokratische Weltauffassung am 
anschaulichsten zum Ausdruck gebracht und hatte sich schließlich 
mit ihr, man kann sagen: überschlagen, so daß er Perikles 
verwarf und Kleon für den wahrhaft idealen demokratischen 
Staatsmann erklärte*). Beide aber, Mill wie Grote, waren 
scharfblickend und unbefangen genug, um schließlich zu er- 
kennen, daß das, was sie zu erreichen bestrebt gewesen 
waren, die Emanzipation und die Herrschaft der Individuen, 
durch das System selbst, durch die Herrschaft der Majorität, 
aufs schwerste gefährdet war. Er habe seinen Glauben 
überlebt, sagte Grote von sich selbst, denn eine Majorität 
könne gerade so tyrannisch sein wie ein Despot, etwa wie 
  
  
*) Über die Verkehrtheit dieser Auffassung vgl. meinen Artikel „Bebel, 
der Demagog“ in den Preuß. Jahrb. Sept.-Heft 1913. 
Aufkommen des 
Proporz- 
Gedankens.
	        
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