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Die Gerichtsbarkeit über die Eingeborenen und das
Eingeborenenrecht.
Die durch das Schutzgebietsgesetz eingeführte Rechtsordnung findet, wie dort
ausdrücklich bestimmt ist, auf die Eingeborenen und die ihnen gleichgestellten Far-
bigen nur insoweit Anwendung, als dies durch Kaiserliche Verordnung vorge-
schrieben ist. Dahingehende Vorschriften sind bisher nur vereinzelt (z. B. mit
Beziehung auf Grundstücke, die in das Grundbuch oder Landregister eingetragen
sind) erlassen. Der Grundsatz, dast alle Menschen vor dem Gesetze gleich sind, hat
also in den Schutzgebieten keine Geltung. Er ist eben dort nicht durchführbar.
Überall, wo man es aus einem nnangebrachten Philanthropismus heraus ver-
sucht hat, die eingeborenen Rassen der europäischen Rechtsordnung zu unter-
werfen, wie dies z. B. in den älteren französischen Kolonien geschehen ist, sind
die Folgen höchst beklagenswerte gewesen. Auf der andern Seite kann auch die
eingeborene Bevölkerung einer geregelten Rechtspflege nicht entbehren. Der
Farbige hat trotz seiner naiven Weltanschauung und seines wenig entwickelten
Denkvermögens — ähnlich wie bei uns ein Kind — ein außerordentlich feines
Rechtsgefühl. Ihm geht auch der Sinn für Ordnung durchaus nicht ab. Er ver-
trägt Strenge fehr wohl, nur nicht Ungerechtigkeit. Gerade deshalb ist es aber
auch notwendig, seinem Rechtsempfinden nach Möglichkeit Rechnung zu tragen
und auf seine hergebrachten Rechtsanschannngen Rücksicht zu nehmen. Die Miß-
achtung dieser ist schon hänfig die Ursache von Gewalttaten gegen die Weißen und
selbst von blutigen Empörungen gewesen. Daß die Spanier und Portugiesen so
wenig kolonisatorische Erfolge erzielt haben, ist wesentlich mit dem Umstande
zuzuschreiben, daß sie es nicht verstanden haben, die Eingeborenen in einer ihrem
Rechtsbewußtsein entsprechenden Weise zu behaudeln, während die Engländer sich
hierin stets als Meister erwiesen haben.
Man darf auch nicht etwa glauben, daß das Prozessieren den Eingeborenen
etwas Fremdes wäre. Im Gegenteil ist die farbige Bevölkerung unserer Schntz-
gebiete, ähnlich wie die ländliche Bevölkerung in der Heimat, zum großen Teil
sogar recht prozeßsüchtig, und namentlich Streitigkeiten, bei welchen die Frauen
eine Rolle spielen, die sogenannten Weiberpalaver, wie sie in den westafrika-
nischen Kolonien genannt werden, sind sehr beliebt und machen den Beamten viel
zu schaffen.
Da es untunlich sein würde, die Rechtsverhältnisse der Eingeborenen schon
jetzt gesetzlich zu regeln, hat der Kaiser (zuletzt durch eine zusammenfassende Ver-
ordnung vom 3. Juni 1908) bis auf weiteres den Reichskanzler und die Gou-
verneure ermächtigt, die erforderlichen Vorschriften zu erlassen. Von dem Ver-
ordnungsrecht ist nur sparsamer Gebrauch gemacht worden, so daß die mit der
Gerichtsbarkeit über Eingeborene betrauten Beamten in der Verwertung ihrer Er-
fahrungen und ihrer Kenntnis der Eigenart der ihnen unterstellten Eingeborenen
möglichst wenig gehindert sind. Die ergangenen Verordnungen betreffen haupt-
sächlich die Strafrechtspflege und verfolgen den Zweck, diese mit gewissen Garan-
tien zugunsten der Eingeborenen zu umgeben.
Die Gerichtsbarkeit über die Eingeborenen wird in den afrikanischen Schutz-
gebieten und in Deutsch-Neuguinea nicht durch die Richter, sondern die örtlichen
Verwaltungsbeamten (Bezirksamtmänner, Stationschefs) ausgeübt. Der Farbige,
der ja nicht gewohnt ist, zwischen Verwaltung und Rechtspflege zu unterscheiden,
hat sich daher in allen seinen Angelegenheiten an einen und denselben Beamten
zu wenden. Dem Beamten selbst aber wird es gerade durch die richterliche Tätig-
keit wesentlich erleichtert, das Vertrauen der eingeborenen Bevölkerung zu ge-
winnen. Nach Möglichkeit werden auch angesehene Mitglieder der letzteren (Walis,
Jumben, Häuptlinge) zu den Gerichtsverhandlungen als Beisitzer mit beratender
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