Entstehung des Deutschen Reiches. 19
VI. Das Deutsche Reich.
1. Seine Entstehung. Das alte Deutsche Reich war durch die Gol-
dene Bulle (1356) zu einem Wahlreich geworden, und die Kurfürsten ließen
sich bei jeder neuen Wahl von dem Kaiser Zugeständnisse machen, die ihre
Macht verstärkten, das Ansehen des Kaisers und des Reiches aber immer mehr
schwächten. Daneben stieg auch die Macht der übrigen Fürsten und der freien
Städte, die mit den Kurfürsten dem Reich nicht die nötigen Mittel zur Auf-
rechterhaltung seiner Macht bewilligten. — Dadurch wurde sein Untergang mit
herbeigeführt, der 1806 in der Abdankung des Kaisers Franz I. seinen Aus-
druck fand.
An die Stelle des untergegangenen Reiches trat 1815 der auf dem Wiener
Kongreß entstandene Deutsche Bund, dem unter der Führung Osterreichs und
Preußens 36 Fürsten und 4 Städte angehörten. Durch den Wettkampf der
beiden Großstaaten war jedoch auch dieses Gebilde von vornherein ohne kräf-
tige Entwickelungsfähigkeit. Dagegen wurde in dem von Preußen in das Leben
gerufenen Zollverein 1834 die wirtschaftliche Grundlage für das neue
Deutsche Reich gegeben.
In der Zeit politischer Unruhen (1848/49) wurde der allgemeine Wunsch
nach einem starken Reich wieder wach und die Frankfurter Nationalver-
sammlung beschloß 1849 die Gründung eines Deutschen Reiches mit Preußen
an der Spitze und unter Ausschluß Osterreichs. Die hier aufgestellte Verfassung
bildet die wichtigste Grundlage unserer heutigen Reichsverfassung. König
Friedrich Wilhelm IV. lehnte indes die ihm angebotene Kaiserkrone ab, da ihre
Annahme sicher zu einem Kriege mit Osterreich geführt hätte.
Erst nach dem Siege Preußens über Osterreich 1866 und der dabei erfolg-
ten Auflösung des Deutschen Bundes war die Schaffung eines Deutschen Reiches
unter der Führung Preußens möglich. Noch im Jahre 1866 schloß es mit
21 norddeutschen Staaten Verträge, die am 15. Febr. 1867 zur Gründung
des Norddeutschen Bundes führten. Die süddeutschen Staaten mußten
nunmehr Anschluß an irgendeine Großmacht suchen, und der glorreiche Kampf
gegen Frankreich führte sie mit dem Norddeutschen Bund näher zusammen. Schon
im November 1870 gelang es dem tatkräftigen Bismarck, mit Bayern, Württem-
berg und Baden Verträge über ihren Beitritt zum Bunde abzuschließen, und
am 18. Januar 1871 erfolgte die öffentliche Verkündigung desneuen Deutschen
Reiches, das mit Blut und Eisen zusammengeschmiedet worden war. Seine
Grundlagen enthält die Reichsverfassung vom 16. April 1871, die erweiterte
Verfassung des Norddeutschen Bundes.
Durch den Frieden mit Frankreich fiel das Reichsland Elsaß-Lothringen an
das Reich, 1890 wurde Helgoland erworben.
Die stetig wachsende Bevölkerung sowie die wirtschaftliche Entwickelung (vgl.
S. 27) veranlaßten Deutschland, seine Weltmacht durch den Erwerb von Kolo-
nien zu stärken. 1884 begann die Bewegung mit dem staatlichen Schutz der
Lüderitzbucht (Südwestafrika); in den folgenden Jahren wurden Togo, Kamerun
und Ostafrika erworben, hauptsächlich durch die eifrige Tätigkeit von Nachtigal,
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