§ 35 Der Weg der Landesgesetzgebung nach dem Verfassungsgesetz vom 31. Mai 1911. 135
nicht der Landtag ist mithin am Erlaß des Gesetzes beteiligt (Laband II S. 260).
Einen weiteren Einfluß auf die Landesgesetzgebung hat sich das Reich insofern gesichert,
als der Kaiser „auf Vorschlag des Bundesrats“ Mitglieder zur Ersten Kammer er-
nennen kann.
Die Mitwirkung des Landtags ist für das Zustandekommen des Inhalts der
Gesetze allerdings eine bedeutsame; seine Zustimmung hat aber nicht den Charakter der
aus eigenem Recht entspringenden Gesetzgebungsbefugnis; diese obliegt dem Kaiser als
dem Organ der Reichsgewalt (Laband II S. 261). Nur der Form, nicht dem
Wesen nach liegt die Autonomie bei Elsaß-Lothringen 1.
Dieser Umstand ist auch für den staatsrechtlichen Charakter der gemäß § 5 V. G.
erlassenen Gesetze von ausschlaggebender Bedeutung. Auch die nach dem V.G. von
1911 zustande kommenden elsaß-lothringschen Gesetze sind Reichsgesetze, wenn auch be-
sonderer Art (Provinzialreichsgesetze).
Das Recht, Gesetze vorzuschlagen, die sogenannte Initiative, steht dem Kaiser
und jeder der beiden Kammern zu. Der Statthalter bedarf zur Einbringung einer
Gesetzesvorlage im Landtag einer speziellen kaiserlichen Ermächtigung und macht im
Falle ihrer Erteilung die Vorlage im Namen oder Auftrage des Kaisers 2. Über die
Gesetzesvorlagen seitens einer der beiden Kammern enthalten die Geschäftsordnungen
nähere Bestimmungen S. Solche Gesetzesvorlagen, welche durch eine der Kammern oder
durch den Kaiser verworfen worden sind, können in derselben Sitzungsperiode nicht
mehr vorgebracht werden (§ 16 II). Die Regierung kann ihre Vorlagen zuerst bei der
Ersten oder bei der Zweiten oder bei beiden Kammern gleichzeitig einbringen; eine Aus-
nahme besteht nur hinsichtlich des Entwurfs zum Landeshaushaltsetat, der zuerst der
Zweiten Kammer vorzulegen ist (§ 5 III). Die Kammern beraten die zur Beratung
gestellte Vorlage unabhängig voneinander und nehmen im Bedarfsfalle Streichungen
oder Ergänzungen vor. Eine Ausnahme besteht wieder hinsichtlich des Landeshaus-
haltsetats, der von der Ersten Kammer nur im ganzen angenommen oder abgelehnt
werden kann. Die seitens der einzelnen Kammern gefaßten Beschlüsse werden dem Statt-
halter durch den Präsidenten übermittelt. Die Vorlage der Beschlüsse der einen
Kammer an die andere ist Sache der Regierung, die an eine bestimmte Frist hierbei
nicht gebunden ist. Die Regierung kann auch in diesem Stadium des Verfahrens ihre
Vorlage ganz zurückziehen.
Will eine Kammer von dem entworfenen Beschlusse der anderen Kammer abweichen,
so geht der veränderte Entwurf wieder an die andere Kammer zurück, bis eine Über-
einstimmung in den Beschlüssen beider Kammern erzielt ist.
Die durch den Kaiser zu bewirkende Sanktion der Gesetze erfolgt nach Zu-
stimmung der beiden Kammern. Eine Zeitgrenze setzt das positive Recht für die
Sanktion nicht"; es wird dies gefolgert einmal aus dem Wesen des Trägers der
Staatsgewalt, d. h. aus dem monarchischen Prinzip, und ferner aus dem Umstand, daß
der Parlamentsbeschluß als Wille eines Staatsorgans auch dauernd geltender Staats-
wille ist und daher seine Wirksamkeit auch dann behalten muß, wenn die Mitglieder des
1 Heim S. 45; Schulze S. 80. Unter Autonomie im heutigen FVechtssinne versteht man
(v. Stengel-Fleischmann, Autonomie, S. 290 f.) die Satzungsgewalt, d. h. die Befugnis eines
nichtstaatlichen Verbandes zur Erzeugung objektiven gesetzten Rechtes. Dadurch kommt das autonome
Recht in einen gewissen Gegensatz zum Gewohnheitsrecht, das sich nicht bloß innerhalb einer organi-
fierten Gemeinschaft, sondern auch innerhalb einer gewissen bloß sozialen Gemeinschaft ausbilden
kann. Als das Gewohnheitsrecht eines mit Autonomie begabten Rechtskreises (nach anderer Ansicht
als das Gewohnheitsrecht einer Körperschaft überhaupt) hat man den Begriff Observanz geprägt.
Die Autonomie des Staatsrechtes im allgemeinen ist die staatsrechtliche Befugnis eines nicht
staatlichen Verbandes zur Erzeugung von Rechtsnormen in Materien, die dem beteessenden Verband
ausdrücklich zur ergänzenden Regelung überlassen sind. Bei den deutschen Bundesstaaten kann man
sedenfalls nicht von Autonomie sprechen, sie haben vielmehr die unmittelbare Staatsgesetzgebung
(Schücking). 2 Laband II S. 261.
à Vgl. für die Erste Kammer §8§8 5 f., für die Zweite Kammer 88 24 f.
4 4 Vgl. G. Meyer-Anschütz S. 570 N. 19; auch Papst, Die Sanktions= und Publikations-
frist n. d. deutschen Reichs= und Landesstaatsrecht, 1909.