2 Erster Teil. Die Entwicklungsgeschichte der reichsländischen Verfassung. * 1
verwaltung überging. Das Post-, Telegraphen= und Eisenbahnwesen wurde besonderen
Generaldirektionen unterstellt, deren Amtsbereich das ganze okkupierte französische
Gebiet bildete.
Aus der amtlichen Tätigkeit des Generalgouverneurs sind besonders hervor-
zuheben : die Schaffung des Departements Deutsch-Lothringen (Erlaß vom 21. August
1870, Amtl. Nachr. Nr. 1), die Einrichtung der „Kreise“ an Stelle der Arondisse-
ments, mit deren Verwaltung „Kreisdirektoren“ beauftragt wurden 7. Ferner gehören
hierher die Einrichtung von Forst= und Steuerbehörden sowie die Ordnung des Schul-
wesens (Schulzwang) . «"
Auch nach der Abtretung des Landes dauerte die Stellung des Generalgouverneurs
noch fort bis zum 5. September 1871 (Bek. v. gl. Tage, Straßb. Zeitung Nr. 212);
die Kompetenz zur Gesetzgebung erlosch jedoch mit dem 28. Juni 1871, dem Tage des
Inkrafttretens des Vereinigungsgesetzes vom 9. Juni 1871.
II. Durch die Einsetzung des Generalgouvernements als einer deutschen Obrigkeit
war die französische Staatsgewalt, wenn auch nicht rechtlich beseitigt, so doch faktisch
suspendiert. An diesen Umstand knüpft sich die Streitfrage, ob die vom General-
gouvernement erlassenen Verordnungen als Ausfluß der französischen Staats-
gewalt oder als Willensakte der durch den König von Preußen als Oberfeldherrn
repräsentierten Gesamtheit der deutschen Staaten zu gelten haben?. Labandto und
Loening (S. 27) ziehen aus dem Umstand, daß durch die Okkupation nur eine
Suspendierung der bisherigen französischen Staatsgewalt eingetreten, im übrigen aber
die staatliche Zugehörigkeit des besetzten Gebietes unverändert geblieben sei, die Folge-
rung, daß der Generalgouverneur „im Namen des Oberbefehlshabers der deutschen
Heere“ kraft Völkerrechts die von ihm okkupierte französische Staatsgewalt ausgeübt
habe. Die Bejahung oder Verneinung dieser Frage ist praktisch deshalb bedeutsam,
weil es von ihrer Beantwortung abhängt, ob die vom Generalgouverneur erlassenen
Verordnungen gleich wie die in Geltung gebliebenen französischen Gesetze als partiku-
lares Landesrecht anzusehen sind oder nicht. Bei näherer Betrachtung läßt sich jedoch
die Auffassung, daß der Generalgouverneur die französische Staatsgewalt ausgeübt
habe 11, nicht halten. Zwar ist es nicht richtig, wenn Leoni sagt, daß nicht erst
durch den Friedensvertrag, sondern schon durch die Okkupation das französische Regiment
„faktisch und rechtlich“ beseitigt worden sei, und noch weniger trifft es zu, wenn der
genannte Schriftsteller aufstellt, der Generalgouverneur habe „von Anfang an und nicht
erst seit dem Friedensvertrag die deutsche Staatsgewalt ausgeübt". Dem König von
Preußen als Oberbefehlshaber der verbündeten Heere standen keine staats-, sondern nur
völkerrechtliche Befugnisse zu; der Generalgouverneur, der seine „Vollmacht“ von dem
Oberbefehlshaber ableitete, konnte mithin auch nur völkerrechtliche Befugnisse ausüben.
Die Ausübung der französischen Staatsgewalt hätte in den okkupierten Gebieten nach
allgemeinen Grundsätzen eine Ableitung, eine Übertragung dieser Staatsgewalt voraus-
gesetzt 2. Etwas Derartiges ist aber nicht geschehen; eine Fiktion dahingehend, als
habe der französische Staat für den Fall der Okkupation gewisser Landesteile die
französische Staatsgewalt dem Eroberer übertragen, wirkt grotesk und unnatürlich;
denn an dem Willen der französischen Staatsgewalt, die von dem deutschen Heere
* Vgl. hierzu Loening, Die Verwaltung des Generalgouvernements im Elsaß. Straßburg
1874, sowie ferner: Die Verordnungen und Amtl. Nachr. für E.-L. aus der Zeit vom Beginn der
deutschen Okkupation bis Ende März 1872. Straßburg 1872.
1 Die bisher für die Unterpräfekten bestehenden Prundsagte blieben maßgebend.
5 Ver. v. 18. April 1871, Amtl. Nachr. Nr. 191.
* Daß der Generalgouverneur in Ausübung HFer deutschen Staatsgewalt“ gehandelt habe,
wie Bruck (Verfass. u. Verwaltungsrecht E. Ls 1 S. 2) und auch Heim (Das els.l. Verfassungs-
geien l 31. Mai 1911 S. 3) annehmen, ist wohl nur ein ungenauer Ausdruck der genannten
Verfasser.
10 Staatsrecht d. D. Reiches, 5. A., Bd. 1I S. 222.
· «DiesckAuffassungsindauchBrucklS.3,HeimS.3;dcrobenwiedergegebenenAnsicht
sind Zorn, Staatsrecht d. D Reichs, 2. A., Bd. I S. 521, Leoni, Verfessungerccht S. 3, Ham-
burger, Die staatlichen Besonderheiten der Stellung des Reichslandes E.-V. S. 9.
1 So Hamburger S. 9.