81 Die Zeit der Okkupation und des Generalgouvernements. 3
besetzten Gebiete festzuhalten, konnte jedenfalls zu damaliger Zeit nicht gezweifelt
werden. Die Ausübung der Staatsgewalt in den besetzten Gebieten geschah vielmehr
auf Grund des originären, völkerrechtlichen Titels der Okkupation. Staatsrechtlich
lassen sich solche interimistischen Herrschaftsverhältnisse überhaupt nicht erklären. Es
besteht sonach auch nicht seit dem 14. August 1870 bis auf den heutigen Tag eine
ununterbrochene Kontinuität des deutschen Rechts in Elsaß-Lothringen, wie vielfach
behauptet wird. Die Verordnungen des Generalgouverneurs haben weder die Bedeutung
von Reichsgesetzen, noch sind sie wie partikuläres Recht zu behandeln. Hätte der
Generalgouverneur nur partikuläres Recht schaffen können, so wäre es staatsrechtlich
auch nicht wohl denkbar, daß er durch partikulare Rechtssätze französisches Recht hätte
aufheben können (z. B. durch Einführung des Schulzwanges, Verordn. vom 18. April
1871). Die Verordnungen des Generalgouverneurs waren aber auch, wie bereits
hervorgehoben, keine Willensakte des Reiches, sondern völkerrechtliche Akte 18. Tat-
sächlich wurden aber diese Verordnungen, was ihre Geltung, ihre spätere Abänderung
und Aufhebung anlangt, auf eine Stufe mit dem in Elsaß-Lothringen geltenden fran-
zösischen Recht gestellt und durch ihre Veröffentlichung in den „Amtlichen Nachrichten
für das Generalgouvernement Elsaß“ erhielten sie gesetzesverbindliche Kraft. Vom
19. Oktober 1870 ab erschienen die erwähnten „Amtlichen Nachrichten“ unter dem
Titel „Straßburger Zeitung und amtliche Nachrichten für das Generalgouvernement
Elsaß“ (Verordn. vom 18. Oktober 1870, Straßb. Ztg. Nr. 12). Die Verordnungen
des Generalgouverneurs bestehen, soweit sie nicht ausdrücklich durch spätere Gesetze
aufgehoben sind, noch heute zu recht 15.
III. Ob die mit Beginn der Okkupation erlassenen französischen Gesetze
für das Okkupationsgebiet verbindliche Kraft erlangt haben, bemißt sich danach, ob
gemäß Art. 1 C. c. und Ord. vom 27. November 1816 die Möglichkeit ihrer Publi-
kation bestand 16. Bis zum 4. August 1870, dem Tag der ersten Besetzung französischen
Gebietes, waren somit alle französischen Gesetze in Elsaß-Lothringen rechtskräftig ge-
worden. Es sind dies die im Bulletin des Lois, Série XI bis zu Nr. 1829 ab-
gedruckten Gesetze. Nach dem 4. August 1870 wurden französische Gesetze nur in den
noch nicht besetzten Gebietsteilen rechtskräftig, in welchen sie durch authentische Pro-
mulgation zur Kenntnis der Bevölkerung gelangen konnten. In Festungen, die zwar
noch nicht okkupiert, aber eingeschlossen waren, war eine Verkündung der Gesetze nicht
möglich, und demgemäß erlangten französische Gesetze für die betreffenden Städte auch
keine Rechtskraft.
IV. Nach allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen bleibt bei der staatsrechtlichen
Einverleibung eines Gebietes alles Recht, Verwaltungsrecht, Privatrecht, Strafrecht,
Prozeßrecht, bestehen, sofern es nicht ausdrücklich durch anderes Recht ersetzt oder, wie
das Verfassungsrecht, implicite durch anderes Recht aufgehoben wird 17. So ist auch
bei der Vereinigung Elsaß-Lothringens mit dem Deutschen Reich das französische
Recht grundsätzlich nicht beseitigt wordenis. Als beseitigt müssen jedoch
alle diejenigen Bestimmungen des französischen Rechts gelten, die das eigentliche Staats-
recht, das Staatsoberhaupt und die Zentralbehörden betreffen, insoweit diese Normen
im Widerspruch zur Reichsverfassung und zu elsaß-lothringischen Verfassungsgesetzen
iusbe * enberg, Reichsgesetze und Landesgesetze in E.-L. Annalen d. D. Reichs 1899 S. 382 f.,
insbes. S. . «
«Hellmann,DiestaatsrechtlicheStellungdesReichslandesE.-L.S.9.
15 Loening S. 31. »
UVgLLeoniS10Anm.l;BrucklS.4;vvnRichthofen,Uberdiestaatsrccht-
liche Gültigkeit der während des Krieges 1870/71 seitens der französischen Regierung erlassenen
Gesetze und Dekrite für Elsaß-Lothringen 1874, auch in Hirths Annal. 1874 S. 522; Saurland
in Z. f. franz. Zivilrecht Bd. 4 S. 654.
11 M. Huber, Die Staatenfukzession 1898 S. 57. W. Schönborn, Staatensukzessionen
im Handbuch des Völkerrechts, herausgeg. v. Stier-Somlo, Bd. II 2. Abt.
18 Dieser Grundsatz ist auch für die Zeit der Okkupation durch Bekanntmachung des Zivil-
kommissars v. 30. Aug. 1870 (Ver. u. Amtl. Nachr. Nr. 1) ausdrücklich anerkannt worden.
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