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solange dieser noch nicht bestellt ist, des Veranstalters ist es, für Ruhe und Ordnung
in der Versammlung zu sorgen. Zur Durchsetzung dieser seiner Aufgabe ist ihm die
Befugnis verliehen, die Versammlung für aufgelöst zu erkären (§ 10). Niemand darf
in einer öffentlichen Versammlung oder in einem Aufzuge, der auf öffentlichen Straßen oder
Plätzen stattfinden soll, bewaffnet erscheinen, es sei denn, daß er vermöge öffent-
lichen Berufs zum Waffentragen berechtigt oder zum Erscheinen mit Waffen behördlich
ermächtigt worden ist (§ 11). Die Verhandlungen in öffentlichen Versammlungen sind
in deutscher Sprache zu führen (§ 12). Eine Ausnahme gilt nur für internationale
Kongresse sowie für Versammlungen der Wahlberechtigten zum Betriebe der Wahlen
für den Reichstag und für die gesetzgebenden Versammlungen der Bundesstaaten und
Elsaß-Lothringens vom Tage der amtlichen Bekanntmachung des Wahltages bis zur
Beendigung der Wahlhandlung!“.
Um die tatsächliche Beobachtung der Bestimmungen des Reichsvereinsgesetz kon-
trollieren zu können, ist es der Polizeibehörde gestattet, in alle öffentlichent (nicht
bloß in politische) Versammlungen zwei Beauftragte zu entsenden; Dieselben
haben sich unter Kundgebung dieser Eigenschaft dem Leiter oder, solange dieser nicht
bestellt ist, dem Veranstalter der Versammlung zu erkennen zu geben und haben als-
dann Anspruch auf einen angemessenen Platz. (X§ 13.) Die Beauftragten der Polizei
haben vornehmlich die Befugnis, die Versammlung unter Angabe des Grundes für
aufgelöst zu erklären, wenn die Genehmigung zu einer öffentlichen Versammlung
unter freiem Himmel oder zu einem öffentlichen Aufzug nicht erteilt ist, wenn die Zu-
lassung der Beauftragten der Polizeibehörde verweigert wird, wenn Bewaffnete un-
befugt in der Versammlung verweilen, wenn in der Versammlung Anträge oder Vor-
schläge erörtert werden, die eine Aufforderung oder Anreizung zu Verbrechen oder nicht
nur auf Antrag zu verfolgenden Vergehen enthalten, und wenn Rednern, die sich ver-
botswidrig einer nichtdeutschen Sprache bedienen, auf Aufforderung der Beauftragten
der Polizeibehörde von dem Leiter oder Veranstalter der Versammlung das Wort nicht
entzogen wird 16. Ist eine Versammlung Versammtung für aufgelöst erklärt worden,
so hat die Polizeibehörde dem Leiter der Versammlung die mit Tatsachen zu belegen-
den Gründe der Auflösung schriftlich mitzuteilen, falls er dies binnen drei Tagen be-
antragt. (& 14.) Sobald eine Versammlung formell rechtsgültig für aufgelöst erklärt
ist, sind alle Anwesenden verpflichtet, sich sofort zu entfernen. (§ 16.) Die Auf-
lösungsverfügung selbst kann nach den Vorschriften des § 2 II R.V.G. (Rekurs nach
Maßgabe der §§ 20, 21 Gew.O.) angefochten werden 1.
Als Polizeibehörden im Sinne des Reichsvereinsgesetz sind gemäß Ziffer 1 Min.=
Ver. die Ortspolizeibehörden (Bürgermeister, Polizeidirektor (-präsident) zu verstehen, so-
weit es sich um die Genehmigung von Aufzügen auf Straßen oder Plätzen handelt, in den
übrigen Fällen der Kreisdirektor (in den Städten Straßburg und Metz die staatliche
Polizeiverwaltung). Unter der Bezeichnung „höhere Verwaltungsbehörde“ ist der Be-
zirkspräsident, unter der Bezeichnung „untere Verwaltungsbehörde" der Kreisdirektor,
in den Städten Straßburg und Metz die staatliche Polizeibehörde zu verstehen.
Auf die durch das Gesetz oder die zuständigen Behörden angeordneten Ver-
sammlungen findet das Reichsvereinsgesetz keine Anwendung. (8 20). Unberührt ge-
blieben sind ferner die landesrechtlichen Vorschriften über kirchliche und religiöse Vereine
und Versammlungen, über kirchliche Prozessionen, Wallfahrten und Bittgänge sowie über
–—.
· 14 Die Zulässigkeit weiterer Ausnahmen ist der Landesgesetzgebung anheimgestellt. Tatsächlich
ist es durch die Vorschrift des Abs. 3 § 12 in das Belieben der Einzelstaaten und Elsaß-Lothringens
gestellt, die Wirkungen des Sprachenparagraphen ganz zu beseitigen. Nach Ziff. 5 der elf.-I. Min.=
Ver. v. 22. April 1908 ist bei den Verhandlungen in öffentlichen Versammlungen der Mitgebrauch
der französischen Sprache allgemein zulässig. Im übrigen kann der Bezirkspräsident in einzelnen
frällen esmen bezüglich des Gebrauchs einer nichtdeutschen Sprache in öffentlichen Versamm-
ungen zulassen.
Vee R.G, (Str.) v. 28. April 1911 in Reger, E. 32 S. 369. W. auch Mahlert,
Zum polizeilichen Uberwachungerccht von Versammlungen, Jur. Woch. 1913 S. 355.
14 Die Ziff. 1 des § 14 R.B.G. kommt für E.-L. nicht in Frage.
!7* Vgl. Ziff. 7—9 der Min Ver.