8 60 Der Unterstützungswohnsitz. 229
nicht. Eine Rechtspflicht zur Armenunterstützung bestand nur bei Irren und Waisen und auch
bei diesen nicht etwa in Form eines klagbaren Anspruchs des Bedürstigen, sondern nur als Folge
der dem Armenverband gesetzlich auferlegten und allenfalls vom Staat erzwingbaren Verpflichtung:
in allen übrigen Fällen wurde Unterstützung nur gewährt, soweit die vorhandenen Mittel reichen 2.
Träger der Armenpflege waren die Wohltätigkeitsanstalten (ECtablissements de bienfaisance),
Spitäler, Armenräte, die die rechtliche Stellung von établissements publics einnahmen. Die
Armenräte versahen die offene (d. h. außerhalb von Anstalten gewährte), die Spitäler die ge-
schlossene (d. h. innerhalb der Anstalten geleistete) Armenunterstützung. Je nach den zur Aus-
übung oder Mitwirkung berufenen Verbänden unterschied man die staatliche, die Bezirks= und die
Gemeindearmenpflege. Die letztere, welche durch die bereits erwähnten bureaus de bienfaisance
(Spitäler, Hospizien und Armenräte) ausgeübt wurde, kam in erster Linie in Betracht; nur wenn
von ihr Unterstützung nicht geleistet werden konnte, traten der Bezirk oder der Staat ein. Die
genannten Wohltätigkeitsanstalten bezogen und beziehen noch jetzt ihre Einkünfte aus ihren Gütern,
ferner aus direkten Abgaben auf die Eintrittsgelder gewisser Lustbarkeiten, die auch in Form von
Bauschsummen seitens der Unternehmer zur Erhebung gelangen können. Die Verteilung des auf
die einzelnen Wohltätigkeitsanstalten einer Gemeinde entfallenden Betrages der Abgabe geschieht
durch den Bezirkspräsidenten.
Die geschlossene Armenpflege liegt hauptsächlich bei den Bezirken, die vor allem die Irren-
und Waisenpflege zu versehen haben; die hier in Frage kommenden Anstalten find in der Regel
reine Bezirksanstalten ohne besondere Rechtsperfönlichkeit.
II. Da vor dem 1. April 1910 das Unterstützungswohnsitzgesetz in E.L. nicht
eingeführt war, gab es vor diesem Zeitpunkt für Nicht-Elsaß-Lothringer keine Mög-
lichkeit, in E.L. einen Unterstützungswohnsitz zu erwerben; indessen wurden durch eine
Reihe von Vereinbarungen mit Nachbarstaaten, die Hauptmißstände in dieser Richtung
gemildert. Dies änderte sich mit dem am 1. April 1910 in E.L. in Kraft getretenen
Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz in der Fassung vom
30. Mai 1908 (R.G. Bl. S. 377), wodurch für E.L. ein mit dem Rechtszustand im
Reiche kongruentes Armenwesen geschaffen wurde “.
Nach § 1 U. W.G. muß jeder Deutsches in jedem Bundesstaat in bezug a) auf
die Art und das Maß der im Falle der Hilfsbedürftigkeit zu gewährenden öffentlichen
Unterstützung, b) auf den Erwerb und Verlust des Unterstützungswohnsitzes als In-
länder behandelt werden. Als hilfsbedürftig ist anzusehen, wer infolge Mangels an
Mitteln oder Kräften oder infolge eines besonderen Notstandes das zur Erhaltung des
Lebens oder der Gesundheit Unentbehrliche sich oder seinen Familienangehörigen nicht
zu verschaffen vermag S§. Die öffentliche Unterstützung wird durch Ortsarmen=
verbände und Landarmenverbände geleistet (§ 2). Die Unterstützung besteht
in der Gewährung des Obdachs, des unentbehrlichen Lebensunterhalts, der erforder-
lichen Pflege in Krankheitsfällen und eines angemessenen Begräbnisses nach dem Tode 7.
Geeignetenfalls kann die Unterstützung ganz oder teilweise durch Naturalverpflegung,
durch Unterbringung in einem Armen-, Pflege= oder Krankenhause sowie durch An-
weisung der den Kräften des Hilfsbedürftigen entsprechenden Arbeit außerhalb oder
innerhalb einer Arbeitsanstalt gewährt werden (§ 2 A.’G.).
In Art. 21 der Erklärung der Menschenrechte heißt es: Die öffentliche Armenpflege ist
eine ie te Schuld.“ Der Gedanke der Deckung der Kosten der Armenpflege auf Grund frei-
williger Aufwendungen kehrt auch in dem Gesebir. 17. g4. März 1793 und der Konstitution v. 24. Juni
1793 wieder. 2 B. v. 7. fruct J — S. 153.
* Die "em Landesrecht überlassenen Fragen 3 dem Ausführungsgesetz v. 8. Nov.
140o (G. Bl. S. 105) enthalten. Außerdem hat das Ministerium Vollzugsbestimmungen v.
7. Dez. 1909 (Centr. Bl. S. 147) erlassen.
6 Unter Deutschen im Sinne des U.W.G. find die Personen zu verstehen, die dem. Geltungs-
bereich des genannten Gesetzes angehören. Auf diese ersomen finden die Bestimmungen im § 7 des
es, über die Föngigteit v. ov. 1867 (B. G. l S. 55), mit Ausnahme von Bayern, keine An-
wendung (
* Dabei ist unter Notstand ein solcher Zustand zu verstehen, bei welchem die an sich vor-
handenen Mittel und Kräfte zur Abwendung der Not augenblicklich für den Betreffenden nicht ver-
fügbar find. Es kommt nur die gegen wärttige, physische Not in Frage. In bezug auf die vor-
beugende Armenpflege bsicht *W Gleichberechtigung aller Deutschen. Sommer a. a. O. S. XII.
7 Aussf Ges. ollz. Best. Auch ein Toter (totgeborenes Kind, beibesfrucht kann
bifsbedurstig sein, nämlich menschtuic der Kosten der Beerdigung, §8 2, 30 U W.G. B f. H.
25. Juni 1904; Reger 24 S. 474