* 2 Die Abtretung des Landes und seine staatsrechtliche Vereinigung mit dem Deutschen Reiche. 9
gebung auf andere Stellen übertragen sind, der Oberpräfident provisorisch die zum
Ersatz derselben erforderlichen Einrichtungen zu treffen habe (Generalklausel).
Die übrigen Bestimmungen des Vereinigungsgesetzes regeln die Einrichtung der
Bezirkspräsidien, der Kreisdirektionen, der Zoll= und Steuerverwaltung, das Unterrichts-
wesen, die Bauverwaltung und die Berufung und Anstellung der Beamten. Die Stellung
des Oberpräsidenten war demnach so umfassend, daß man dem äußeren Anschein nach
eher von einem „Ministerium“ als von einer einem preußischen Oberpräsidium nach-
gebildeten Einrichtung sprechen könnte. Bestärkt wurde man noch in diesem Eindruck
durch die Tatsache, daß die Kosten der Verwaltung des Reichslandes von einer be-
sonderen Landeskasse (§ 19 zit.) getragen wurden. Staatsrechtlich konnte aber
nicht in Zweifel gezogen werden, daß es sich in E.-L. nicht um eine selbständige Staats-
verwaltung, sondern um eine der Leitung des Reichskanzlers unterstellte Reichsver-
waltung handelte.
V. Die Tatsache, daß die Reichsregierung durch Reichsgesetz vom 25. Juni
1873 (R.G.Bl. S. 161) 1 zur Einführung der Reichsverfassung schritt, be-
deutete eigentlich eine Inkonsequenz, da die R.V. eine Landesstaatsgewalt voraussetzt;
aber die ganze verfassungsrechtliche Entwicklung des Reichslandes ist überhaupt eine
Kette von juristischen Inkonsequenzen, wie sie eben durch die Macht der Tatsachen
herbeigeführt wurden. Durch § 2 zit. wurde nun bestimmt, daß das Gebiet des Reichs-
landes Elsaß-Lothringen dem in Art. 1 R.V. bezeichneten Bundesgebiet hinzutritt, und
weiterhin in § 3, daß bis zu der in Art. 20 R.V. vorbehaltenen gesetzlichen Regelung
in E.-L. fünfzehn Abgeordnete zum deutschen Reichstag gewählt werden. Damit
war der Anfang zu einer Verselbständigung des Reichslandes, aber gleichzeitig auch
zu einer festeren Verkettung mit dem Reiche gemacht; Mitgliedschaftsrechte im Reich
hatte das Reichsland hierdurch jedoch nicht erworben. Notwendigerweise mußte im
Anschluß hieran auch die Einführung des Wahlgesetzes für das Deutsche Reich vom
31. Mai 1869 in der Fassung vom 16. April 1871 bewirkt werden (§8 6 zit.) 20.
Da durch das Vereinigungsgesetz vom 9. Juni 1871 der Art. 2 R.V. nicht
eingeführt worden war, mithin auch das Reichsgesetzblatt zur Verkündung der kaiser-
lichen Verordnungen nicht zur Anwendung kam, war bereits durch Gesetz vom 3. Juli
1871 das im Reichskanzleramt herausgegebene „Gesetzblatt für Elsaß-Lothringen“
eingeführt worden. Aber auch abgesehen von diesem mehr formalistischen Unterschied
hatte bis zur Einführung der R.V. in Elsaß-Lothringen hinsichtlich der Gesetzgebungs-
form eine Spaltung des Reichsgebiets in zwei Reichsgebiete bestanden. (Laband 1I 223.)
Diese Spaltung fiel mit der Einführung der R.V. fort; das Reichsland gehörte von
nun an zu dem großen einheitlichen Rechtsgebiet des Deutschen Reiches. Der Erlaß
aller Gesetze, sowohl derjenigen, welche in den Bundesstaaten zur landesgesetzlichen
Kompetenz gehören, wie die Reichsgesetzgebung war nunmehr dem Reiche übertragen
und die Verkündigung dieser Gesetze mußte im Reichsgesetzblatt erfolgen ?7. Die
Sanktion der Gesetze stand nunmehr dem Bundesrat und nicht mehr, wie nach
dem Gesetz vom 9. Juni 1871 § 31II, dem Kaiser zu; diesem war nur die Aus-
fertigung der Gesetze verblieben 2?7.
10 Wirkung äußerte das Gesetz aber erst vom 1. Januar 1874.
ꝛo Nach & 6 II erfolgte die in § 6 des Wahlgesetzes vorgesehene Abgrenzung der Wahlkreise
bis zur vorbehaltenen reichsgesetzlichen Bestimmung durch Beschluß des Bundesrats, welcher durch
Bekm. d. R. K. v. 1. Dez. 1873 (G. Bl. S. 315) verkündet wurde.
2 Die Praxis hat dies allerdings nicht immer befolgt: vielfach findet gleichgeitig Verkündung
im Reichsgesetzbl. und im Gesetzbl. f. E-L. statt. Vgl. hierzu Rosenberg, Annal. 1899 S. 404,
und Bruck 1 18. Diese Identität der Reichs- und Landesgesetzgebung ist nach Laband (II 224)
jedenfalls für die damalige Epoche das charakteristische Kriterium für den Reichslandcharakter Elsaß-
Lothringens Das Gesetz spricht zwar in § 4 von der „inneren“ Gesetzgebung des Landes; aber
diese Begeichnung ist staatsrechtlich ohne Bedeutung. (Es handelt sich hierbei um Steuergesetze, z. B.
Besteuerung des inländischen Bieres 6 4) und die Oktroigesetzgebung (§ 5.).
22 Die Aufstellung Leonis (S. 5, 162), daß der Kaiser auch nach Einführung der R.V. noch
die Befugnis der Sanktion der Gesetze gehabt habe, soweit es sich nämlich um die Landes geehe
#bungskompeten) handelt, ist widerlegt durch Rosenberg (Staatsrechtl. Stellung S. 25, u. Hie s
nnal. 1899 S. 401 f.) und zählt heutzutage wohl keine Anhänger mehr. Val. Hellmann S. 33f.