Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XXVI. Das öffentliche Recht des Reichslandes Elsaß-Lothringen. (26)

§* 65 Die Kinderfürsorge. 6 249 
  
  
können 20; e) den verbleibenden Rest hat derjenige Landarmenverband zu tragen #1, 
in dessen Gebiet die Hilfsbedürftigkeit hervorgetreten ist, vorbehaltlich des Ersatz- 
anspruchs gegen den Landarmenverband, in dem der Pflegling seinen Unterstützungs- 
wohnsitz hat. 
Die inneren Kosten werden von den Pflegeanstalten vorgeschossen und mit dem 
Landarmenverband verrechnet; die äußeren Kosten bezahlt der Landarmenverband 
direkt. Der Staatszuschuß wird alljährlich durch den Landeshaushaltsetat bestimmt. 
III. Die Gemeindewaisenpflege. Für diejenigen Kinder, die nicht oder 
nicht mehr der Bezirkswaisenpflege unterstehen, sorgt die örtliche Armenpflege haupt- 
sächlich durch die Gemeindewaisenhäuser. Über die Aufnahmebedingungen entscheiden 
die Reglements der betreffenden Anstalten 22. Die Aufnahme erfolgt durch Beschluß 
des Verwaltungsrats. Die Kinder werden vom siebenten Lebensjahre ab in der An- 
stalt erzogen und erlernen ein Handwerk. Die Verwaltung der Gemeindewaisenhäuser, 
soweit sie nicht selbständige Anstalten sind, untersteht der Verwaltungskommission des 
Spitals. Eine gesetzliche Vormundschaft des Verwaltungsrats über die Kinder be- 
steht nicht 25. 
IV. Neben dem System der geschlossenen Bezirkswaisenpflege hat sich früh 
auch die zeitweise Bezirksunterstützung (secours temporaires) gegenüber solchen 
Müttern entwickelt, die ihre Kinder selbst verpflegen, und die hilfsbedürftig sind. Eine 
gesetzliche Sanktion erhielt diese Art der Kinderpflege erst durch das Gesetz vom 5. Mai 
1869, welches die Unterstützung solcher Kinder, die dem hilflosen Verlassen ausgesetzt 
find, als äußere Auslagen statuierte. Ursprünglich war hierbei nur an uneheliche 
Kinder gedacht, die Praxis hat indessen die Unterstützungspflicht auf alle Kinder aus- 
gedehnt, die entweder Vater oder Mutter verloren haben". Die Dauer und den Um- 
fang der Unterstützung bestimmt der Bezirkspräsident im Einverständnis mit 
dem Bezirkstag. Die Dauer beträgt gewöhnlich drei Jahre für ein Kind; die Höhe 
der Unterstützung darf denjenigen Betrag nicht übersteigen, der für die Pflege fremder 
Kinder festgesetzt ist. Die sonach vorübergehend unterstützten Kinder erhalten un- 
entgeltlichen Unterricht, unentgeltliche Heilbehandlung usw., und ihre Pflege wird von 
dem Bezirkswaiseninspektor beaufsichtigt. 
V. Die Zwangserziehung. Unter Zwangserziehung versteht man die 
unter staatlichem Zwange zum Zwecke der Erziehung erfolgende Unterbringung eines 
fürsorgebedürftigen Minderjährigen außerhalb seiner Familie 25. 
Es ist zu unterscheiden zwischen der auf privatrechtlichen und der auf öffentlich- 
rechtlichen Grundsätzen beruhenden Zwangserziehung. 
1. Im Bürgerlichen Gesetzbuch tritt die Zwangserziehung als obervormund- 
schaftliche Unterbringung in Erscheinung. aßgebende Bestimmungen sind hier 
die §§ 1666 und 1838 B.G.B. Die Anordnung der Zwangserziehung ist hier eine, 
und zwar die letzte und wichtigste der in das Ermessen des Vormundschafts- 
gerichts gegebenen Erziehungsmaßnahmen. Für das Verfahren ist das Reichsgesetz über 
die freiwillige Gerichtsbarkeit maßgebend 26. 
2. Da die hiernach möglichen obervormundschaftlichen Maßnahmen nicht aus- 
reichen, ist durch Art. 1385 E.G. B. der sogenannten öffentlichen Zwangs- 
½% Art. 5 Nr. 4 Abs. 2 Ges. v. 1869. Die Beiträge der Ortsarmenverbände werden all- 
jährlich durch den Bezirkstag festgesetzt. » 
21 Zu e) und d) handelt es sich um Pflichtausgaben der Gemeinde beziehungsweise des Bezirts. 
22 So kann verlangt werden: Ehelichkeit, elsa lothringische Landesangehörigkeit usw. Val. 
Schwander S. 58; v. d. Goltz, Straßburgs Armenpflege, S. 40. » 
«"Jn Ermaanung eines anderen Vormunds kann aber ein Mitglied der Verwaltungs- 
kommission oder ein Anstaltsbeamter zum Vormund ernannt werden. 
4 Ges. v. 5. Mai 1869 Art. 3 Z. 1. Min Cirk. v. 3. Aug. 1869 § II, § 26 A.G. U. W.G. 
*?5 Vgl. zum Folgenden die ausführliche Darstellung des Zwangserziehungswesens bei 
Molitor-Stieve S. 437ff. Im Text werden nur die wesentlichsten Grundzüge wiedergegeben. 
Vgl. ferner Kisch S. 942 f.; Verordnung des Ministeriums, betr. die Zwangserziehung Minder- 
jähriger, v. 10. Jan. 1900 (Centr. Bl. S. 34, Sulg. Bd. 25 S. 34). 
Mutt Vesentlich ist auch die Bestimmung § 1673 B. G. B. (vorherige Anhorung des Vaters oder 
r Mutter).
	        
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