12 Erster Teil. Die Entwicklungsgeschichte der reichsländischen Verfassung. * 3
Kompetenz, die durch Gesetze und Verordnungen dem Reichskanzler in elsaß--lothringischen
Landesangelegenheiten übertragen war, sowie die durch § 10 des Gesetzes, betr. die Ein-
richtung der Verwaltung vom 30. Dezember 1871 (G.Bl. 1872 S. 49) dem Ober-
präsidenten übertragenen außerordentlichen Gewalten. Somit war der Reichskanzler
durch den Statthalter für E.-L. ersetzt; aber sollte diese Anderung nicht eine bloß
formale sein, so mußten auch die amtlichen Befugnisse, die bisher das Reichskanzleramt
für E.-L. und das Reichsjustizamt ausgeübt hatten, zusammen mit den dem Ober-
präsidenten zukommenden Obliegenheiten einer einheitlichen im Lande selbst tätigen
Zentralbehörde übertragen werden. Dies geschah durch die Errichtung des „Ministeriums
für Elsaß-Lothringen“. Durch § 3 wurde bestimmt: „Das Reichskanzleramt für
Elsaß-Lothringen und das Oberpräsidium in Elsaß-Lothringen werden aufgelöst. Zur
Wahrnehmung der von dem ersteren und dem Reichsjustizamt in der Verwaltung des
Reichslandes sowie der von dem Oberpräsidenten bisher geübten Obliegenheiten wird
ein Ministerium für Elsaß-Lothringen errichtet, welches in Straßburg seinen Sitz hat,
und an dessen Spitze ein Staatssekretär steht.“
Die Stellung des Staatssekretärs erhielt nach § 4 eine besondere Betonung
noch dadurch, daß bestimmt wurde: „Die Anordnungen und Verfügungen, welche der
Statthalter kraft des ihm nach § 1 erteilten Auftrags trifft (d. h. die landesherrlichen
Befugnisse), bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Staatssekretärs, welcher
dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt.“ Weiter heißt es in Abs. 2 zit.: „In den
in § 2 bezeichneten Angelegenheiten hat der Staatssekretär die Rechte und die Ver-
antwortlichkeit eines Stellvertreters des Statthalters in dem Umfang, wie ein dem
Reichskanzler nach Maßgabe des Gesetzes vom 17. März 1878 (R.G. Bl. S. 7) sub-
stituierter Stellvertreter sie hat.“ Gleichzeitig blieb dem Statthalter aber vorbehalten.
jede in diesen Bereich fallende Amtshandlung selbst vorzunehmen.
Weiterhin wurde durch § 9 ein Staatsrat eingesetzt, der berufen war,
Gesetzentwürfe und die zur Ausführung von Gesetzen zu erlassenden allgemeinen Ver-
ordnungen und schließlich alle Angelegenheiten zu begutachten, welche ihm vom Statt-
halter überwiesen wurden. Durch § 9 Abs. 2 wurde ferner bestimmt, daß dem Staatsrat
auch andere, insbesondere auch beschließende Funktionen übertragen werden können. Von
dieser Befugnis ist jedoch nie Gebrauch gemacht worden.
Die Einrichtung des Landesausschusses wurde beibehalten; § 12 erhöhte
aber die Zahl der Mitglieder auf 583. Gleichzeitig wurde die rechtliche Stellung des
Landesausschusses näher ausgestaltet; er erhielt (§ 21) das Recht, innerhalb des Be-
reichs der Landesgesetzgebung Gesetze vorzuschlagen und an ihn gerichtete Petitionen
dem Ministerium zu überweisen. Die Hauptbefugnis des Landesausschusses lag aber
nach wie vor in der Mitwirkung bei der Gesetzgebung. Seine Mitwirkung war
bei allen Gesetzen nötig, die nicht in der als möglich vorausgesehenen Form der Reichs-
gesetzgebung für E.-L. ergingen. Von besonderer Bedeutung erwies sich diese Befugnis mit
Rücksicht auf den in die Form des Gesetzes gekleideten jährlichen Landeshaushaltsetat. Da-
neben hatte er das schon erwähnte Recht der Initiative, d. h. das Gesetzesvorschlags-
recht, und das Recht, Petitionen entgegenzunehmen und dem Ministerium zu überweisen;
indessen waren diese Rechte von verhältnismäßig geringerer Bedeutung). Die Unter-
suchung der rechtlichen Natur des Landesausschusses hat seinerzeit zu erheblichen Streit-
fragen Anlaß gegeben, die hauptsächlich auf die Kontroverse der staatsrechtlichen Stellung
des Reichslandes selbst zurückzuführen sind. Da eine besondere Staatsgewalt in E.-L.
nicht errichtet wurde, konnte der Landesausschuß auch kein Staatsorgan sein. Außerlich
betrachtet wies er allerdings große Ahnlichkeit mit den Landtagen der deutschen Bundes-
staaten auf — er fungierte auch tatsächlich als solcher —, doch konnte und durfte dies
über den staatsrechtlichen Charakter sowohl des Landesausschusses wie des Reichslandes
—
3 Uber das Zustandekommen der Wahlen vgl. §§ 12 f. des Gesetes Bruck I S. 98f.
* Das Recht, die Regierung zu interpellieren, 8 der Landesausschuß nicht. Wohl
aber war ihm ein gewisser Einfluß auf die Landesverwaltung außer der Einwirkung auf den Landes-
haushaltsetat dadurch gesichert, daß ihm das Recht eingeräumt war, Mitglieder von Kommissionen
zu bestimmten Verwaltungszweigen zu wählen.