356 Vierter Teil. Die Landesverwaltung. 8 81
IV. Das Reich ist also nicht bloß Unternehmer und Eigentümer der Reichs-
eisenbahnen in Elsaß-Lothringen, sondern es hat auch die Eisenbahnhoheit. Indessen
ist damit dem Lande nicht die Fähigkeit abgesprochen worden, ebenfalls das Eisenbahn-
hoheitsrecht insoweit auszuüben, als das Reich nicht widerspricht. Tatsächlich hat
das Land wiederholt Privateisenbahngesellschaften konzessioniert. Es bestehen mithin
zwei Eisenbahnhoheiten nebeneinander, diejenige des Reiches und diejenige Elsaß-Loth-
ringens. Das Rechtsverhältnis zwischen beiden ist aber nicht #sin solches der Neben--,
sondern der Über= und Unterordnung: denn ohne den Willen des Reiches dürfen
im Lande keine Bahnen gebaut werden. Die Stellung Elsaß-Lothringens hinsichtlich
der vom Reiche freigegebenen Strecken ist indessen eine ganz unabhängige; das Land
handelt hier bei der Konzessionserteilung selbständig. Der Statthalter hat in solchen
Fällen alle diejenigen Befugnisse, die das französische Recht dem Minister der öffent-
lichen Arbeiten zuwies; insbesondere hat er das Recht, die Gesetze und Verordnungen,
welche die betreffenden Arbeiten genehmigen, gegenzuzeichnen.
V. Bei diesem Punkte setzte früher eine bekannte Streitfrage ein, nämlich, wer
die für jedes Eisenbahnunternehmen notwendige kaiserliche Verordnung, welche die Er-
mächtigung zu Enteignungen enthält, gegenzuzeichnen habe, der Reichskanzler oder
der Statthalter. Nimmt man mit der herrschenden Meinung an, daß die Eisenbahnhoheit
des Reiches auch die Enteignungsgewalt umfaßt und daß letztere nicht etwa ein selbständiges
Hoheitsrecht darstellt, so kommt man ohne weiteres zu der Auffassung, daß nur der Reichs-
kanzler gegenzuzeichnen hat und nicht der Statthalter, da die Enteignung als solche niemals
eine Landesangelegenheit im Sinne des Gesetzes vom 6. Juli 1879, sondern Sache
derjenigen Behörde ist, der die Durchführung des in Frage stehenden öffentlichen Unter-
nehmens und damit das Hilfsmittel der Enteignung anvertraut ist. Dem Reiche
kommt demnach als Ausfluß seiner Eisenbahnhoheit auch die Enteignungsgewalt zu,
und letztere umfaßt wieder in gewissen Grenzen das Wegeveränderungsrecht 10. Es er-
scheint jedenfalls nicht angängig, neben der die Genehmigung des Eisenbahnbaues aus-
sprechenden kaiserlichen Verordnung, die vom Reichskanzler gegenzuzeichnen ist, noch
eine weitere, vom Statthalter gegenzuzeichnende Verordnung zu verlangen, auf Grund
deren dem Unternehmen die Enteignungsbefugnis verliehen wird; dies würde auch im
vollständigen Widerspruch mit dem Herrschaftsrecht des Reiches über Elsaß-Loth-
ringen stehen.
VI. Ein anschauliches Bild des Verhältnisses zwischen Reichs= und Landes-
eisenbahnhoheit gibt das am 2. Mai 1902 11 zwischen den Reichs= und den Landes-
behörden geschlossene Abkommen. Danach verspricht die Reichseisenbahnverwaltung, in
absehbarer Zeit eine Reihe von Linien zu bauen; weiter erklärt sie, daß sie auf den
Ausbau einer Anzahl von Linien verzichte und die Konzession derselben durch Elsaß-
Lothringen freigebe. Über alle anderen Strecken wird ausdrücklich eine Entscheidung
vorbehalten. Aus diesem „Abkommen“ ergibt sich mit voller Deutlichkeit, daß ohne
die Zustimmung des Reiches in Elsaß-Lothringen Bahnen nicht gebaut werden können.
Dieser Rechtszustand ist im wesentlichen durch § 24 Verf. Ges. aufrechterhalten
worden. Die genannte Verfassungsbestimmung stellt den Grundsatz an die Spitze, daß
in Elsaß-Lothringen Eisenbahnen, die dem öffentlichen Verkehr dienen, nur vom Reiche
* Ob man allerdings bei einem derartig bevormundeten Recht überhaupt noch von einem
staatlichen Hogeiterccht sprechen kann, erscheint aes fraglich. Damit verliert aber auch dieses an-
zeblich- Hoheitsrecht sehr an Wert als Argument für die staatliche Natur des Reichslandes (vgl. in
etzterem Sinne Rosenberg).
16 O. Mayer, Off. Arch. 15 S. 545; Wißmann S. 51. Soll eine Zwangsenteignung
für eine seitens des Reiches in E.-L. zu bauende Bahn erfolgen, so wird die hierzu notwendige
landesherrliche Verordnung im Namen des Reiches, aber nicht mit dem Zusatz für Elsaß-Lothringen“,
sondern schlechtbin erlassen, und die Gegenzeichnung erfolgt durch den Reichskanzler und nicht durch
en Statthalter.
g So auch Unterstaatssekretär Dr. Petri anläßlich der Beratung des Entwurfs eines Ent-
eignungsgesetzes, Landesausschußverhandl. 1904 S. 681 A. ·
· in Pal die Verhandl. des Landesausschusses 1908 Bd. II S. 174 f. und Heim S. 112;
Laband II S. 258.