392 Fünfter Teil. Das Staatskirchenrecht. §* 88
dienstes zu religiösen Ubungen versammelt; weiterhin ist aber auch erfordert, daß in diesen
ÜUbungen durch die gleichzeitige Vernachlässigung des gemeinsamen Gottesdienstes die
Gesinnung und die bewußte Richtung auf eine Loslösung von der kirchlichen Gemein-
schaft zum Ausdruck kommt !. Der Unsstand allein, daß von den Geistlichen der Ge-
meinde Privatgottesdienste veranstaltet werden, genügt also nicht, wohl aber wäre ein
wesentliches Merkmal die Tatsache, daß solche Versammlungen ohne Mitwirkung eines
Geistlichen oder unter Leitung eines auswärtigen Geistlichen abgehalten werden ?.
II. Eine staatliche Kontrolle der Sekten findet an sich in keiner Weise statt; es
beruht dies auf dem Verfassungsgrundsatz über die Religionsfreiheit 3. Die Frage, ob Ver-
eine, die zu Kultuszwecken sich außerhalb der anerkannten öffentlichen Religionsgesellschaften
des Landes bilden, die Rechtsfähigkeit anders als durch ein förmliches Gesetz erlangen
können, war schon vor Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches bestritten. Leoni-
Mandel (S. 285) verneinten die Frage, indessen wird das Erfordernis des Gesetzes
auf die Bildung einer öffentlichen Religionsgesellschaft zu beschränken sein"; ob im
übrigen früher die Erklärung der Gemeinnützigkeit durch landesherrliche Verordnung für
ausreichend erachtet werden könnte 5, erscheint zweifelhaft. Unter der Herrschaft des
Bürgerlichen Gesetzbuches hat sich die Praxis gebildet“", daß, wenn dem Antrag einer
Religionsgesellschaft auf Eintragung in das Vereinsregister sachliche Bedenken nicht ent-
gegenstehen, seitens der Verwaltungsbehörde von der Erhebung des Einspruchs ab-
gesehen und die Entscheidung über die Zulässigkeit der Eintragung den Gerichten über-
lassen wird, die bisher die Eintragung regelmäßig bereits in erster Instanz vor-
genommen haben. Es dürfte aber, abgesehen hiervon, zu erwägen sein, ob nicht das
Dekret vom 19. März 1859, betreffend die Ermächtigung zur Eröffnung von neuen
Kirchen, Kapellen usw. sowie zur öffentlichen Ausübung der vom Staat nicht an-
erkannten Bekenntnisse noch in Kraft ist7. Die Frage wird meistenteils verneint mit
dem Hinweis darauf, daß es sich bei dem fraglichen Dekret lediglich um eine Aus-
führungsverordnung zu den damaligen vereinsgesetzlichen Vorschriften s handle, die durch
das Vereinsgesetz vom 21. Juni 1905 aufgehoben worden sei; das letztere Gesetz hat
aber an die Aufhebung des fraglichen Dekrets gar nicht gedacht. Demgegenüber wird
geltend gemacht, daß das Dekret von 1859 die freien Religionsgesellschaften aus der
Sphäre des Vereinsrechts hat herausheben wollen?. Will man aber das Dekret
von 1859 nicht als Ausführungsverordnug zum Vereinsrecht gelten lassen, so bleibt
5+88)] 1 Vgl. Richter, Lehrb. d. Kirchenrechts, 7. Aufl., Buch V § 246 III.
Bei der sogen. streng lutherischen (orthodoxen) Richtung innerhalb der Kirche kann aber
von einer Sekte nicht die Rede sein. Ein formeller Austritt aus der Kirche liegt hier nicht vor.
Auch die Mitglieder der sogen. Protestgemeinden, Schillersdorf-Obermodern, Heiligenstein,
Geudertheim, Plobsheim-Daubensandt, gelten noch als zur Landeskirche gehörig. Vgal. hierzu
Stübel S. 95 u. Verh. d. Oberkons. 51 S. 145; 52 S. 159; 53 S. 233. Froehlich, Sektentum
und Separatismus in E.-L., 1829, unterscheidet folgende Sekten: 1. täuferische Gemeinschaften:
Baptisten, Mennoniten, Froehlichianer, Hausknechtianer; 2. Methodisten: Albrechtsbrüder, bischöfliche
Methodisten; 3. Irvingianer; 4. Herrenhuter; 5. Svedenborgianer; 6. Darbisten. — Uber die Heils-
armee als Religionsgesellschaft vgl. R.G. (Str.) v. 5. Okt. 1900; Reger, E. 21 S. 196 u. v. 22. Jan.
1907 eod. 28 B. 42.
3 Art. 7 der Erklärung der Menschenrechte v. 22. Aug. 1789, Verf. v. 3.—14. Sept. 1791
Art. 10, Verf. v. 5. Fruct. III (22. Aug. 1795). Charte v. 4.—16. Juni 1814 Art. 5, 6. Charte
v. 14.—24. Aug. 1830 Art. 5; Verf. v. 4.—10. Nov. 1848 Art. 7: chacun professe librement
25 Flgione. reçoit de I'Etat, pour l’exercice de son culte une 6gale protection. Verf. v.
. Jan. 2.
SBol. Dalloz, Suppl. Culte Nr. 25, 32, 35, 38, 40:; Mayer, Frz. V.N., S. 518. Be-
sondere Bestimmungen gelten für die Genossenschaften der kath. Kirche. Geigel S. 340.
Z 5 In Frankreich hat allerdings eine Anerkennung solcher Vereine als gemeinnützige Anstalten
nie stattgefunden. «
«Ach-Landesprivatrecht,S.159;Molitor-Stieve,Kommentar,S.31f.,sinbber
Ansicht, daß die religiösen Sekten die Rechtsfähigkeit nur durch Gesetz erlangen können.
7 Petri, Das els.-lothr. Vereinsgesetz v. 1905 S. 33 ist geneigt, die Frage zu bejahen.
6 Art. 219 C. p. Ges. v. 10. April 1884 in Verbindung mit Dekr. v. 25. März 1852.
Diese Auffassung erhält eine Stütze durch die neuere französische Literatur und Prafie,
welche das Dekret als noch in Geltung befindlich (gegenüber dem franz. Ges. v. 1901) behandelte;
vgl. Dalloz, Dict. prat. de droit 1905 v. culte Nr. 14. Aber das franz. Ges. v. 1901 hat
den Art. 294 C. p. nicht ausgehoben!