30 Zweiter Teil. Die Verfassung Elsaß-Lothringens und die Behördenorganisation. 88
staaten gegenüber der Reichsangehörigkeit. Man versteht unter politischen Rechten die
Anteilnahme bestimmter Bevölkerungsklassen an der verfassungsmäßigen Herstellung und
Ausführung des Staatswillens innerhalb der dem Einzelstaat verbliebenen Sphäre
(Laband 1 161). Das wichtigste der hierher gehörigen Rechte ist das Wahlrecht; für
die Landtage der Einzelstaaten können, falls nicht das partikuläre Staatsrecht eine Aus-
nahme zuläßt (vgl. E.-L.), nur Angehörige des Staates wählen oder gewählt werden.
Soweit es sich um die Ausübung politischer Rechte handelt, welche durch die
Reichsverfassung oder Reichsgesetzgebung gewährleistet sind, sind die erforderlichen Voraus-
setzungen lediglich aus dem Reichsrecht zu entnehmen. Dagegen ist die Frage, unter
welchen Voraussetzungen die Ausübung der im besonderen Landesstaatsrecht begründeten
politischen Rechte gestattet ist, auch jetzt noch an sich nach den landesrechtlichen
Bestimmungen 1, zu beurteilen. Indessen sind die einschlägigen Vorschriften beinahe
zu völliger Inhaltlosigkeit herabgesunken, da sie inzwischen größtenteils durch die Reichs-
gesetzgebung aufgehoben worden sind.
Nach Art. 3 R.V. sind nämlich alle Deutschen in gleicher Weise wie die Landes-
angehörigen zu öffentlichen Amtern zuzulassen; es hat sich indessen in dieser Beziehung
ein Gewohnheitsrecht entwickelt, das diese Zulassung von der Gegenseitigkeit abhängig
macht. Durch das Gesetz vom 24. Januar 1873 und § 14 des Gesetzes vom 21. Juli
1879 ist ferner die aktive und passive Wahlfähigkeit zu den ehemaligen Landesausschuß-
und zu den Bezirks-, Kreis= und Gemeindewahlen auf alle in Elsaß-Lothringen wohnenden
Deutschen ausgedehnt worden. Durch das Verfassungsgesetz vom 31. Mai 1911 § 6
Abs. 2 ist schließlich bestimmt worden, daß nur Reichsangehörige, die in Elsaß=
Lothringen ihren Wohnsitz haben und mindestens 30 Jahre alt sind, in die
Erste Kammer gewählt werden dürfen. Auch für die Wahlen zur Zweiten Kammer ist nach
8 2 des Wahlgesetzes als erstes Erfordernis die Reichs angehörigkeit aufgeführt; hinzu
kommt allerdings auch hier die Wohnsitzklausel. Nach der Gemeindeordnung vom
6. Juni 1895 § 30 sind wahlberechtigt die männlichen Einwohner der Gemeinde, sofern
sie im Besitz der Reichsangehörigkeit sind. Für das passive Wahlrecht (§ 31) gelten
die gleichen Voraussetzungen. Die politischen Gemeindebürgerrechte sind in Elsaß-
Lothringen mithin allen Reichsangehörigen ohne Unterschied gewährt 6.
Der Autonomie der Einzelstaaten ist es überlassen, das Maß der politischen
Rechte und die Voraussetzungen ihrer Ausübung im einzelnen näher zu bestimmen.
Das Reichsrecht zieht im Gesetz vom 3. Juli 1869 nur eine Schranke: Das religiöse
Bekenntnis darf nicht zur Voraussetzung politischer Rechte gemacht werden. Jedoch
hat der Inhalt dieser Gesetzesbestimmung, wie Laband treffend ausführt (1 161), mit
dem Reichsbürgerrecht gar nichts zu tun, denn „ein Recht der Glaubensfreiheit ist ein
Unding". Aufgehoben ist durch die fragliche Gesetzsbestimmung nur der Mißbrauch
der Staatsgewalt, an die Ausübung dieser natürlichen Fähigkeit Rechtsnachteile und
politische Beschränkungen zu knüpfen. Eine wirkliche Beschränkung des Reichsbürger-
rechts ist dagegen in dem Militärgesetz vom 2. Mai 1874 enthalten, wonach die
Ausübung des Wahlrechts für die zum aktiven Heer gehörigen Militärpersonen, mit
Ausnahme der Militärbeamten, auch in betreff der einzelnen Landesvertretungen ruht.
! Die Ausübung der „droits politigues“, zu welchen die „fonctions publiques“ gerechnet
werden, stand nach den Bestimmungen, welche zur Zeit der Erwerbung E.-L.s in Frankreich galten:
nur dem „citoyen“ zu. Für die Begriffsbestimmung des citoyen waren bei der Promulgation des
C. c. u. des Eisetzes v. 25. Vent. XI die Art. 2, 4 u. 5 der Verf. v. 22. frim. maßgebend. Vgl.
über das Nähere Leoni S. 37f.
Das „Recht“ zur Führung einer Vormundschaft ist nach § 1785 B.G. B. allen Deutschen ge-
währt, und bezüglich der Fähigkeit, „Instrumentszeuge“ zu sein, gelten jetzt die §§ 2234 B.G.B.,
170 FreigGe. ur noch gewisse unbedeutende Amtsverrichtungen, welche nicht unter den Begriff
des öffentlichen Amtes fallen (z. B. Art. 7 Ordonn. 31. Okt. 1821, Bull. des Lois, Série VII,
Nr. 11 623, betr. die Verwaltung der Pflegehäuser und Armenräte), erfordern die spezielle elsaß-
lothringische Londes-Staatszangehörtgkeit. «
18 Bruck I S. 67. In Baden stehen die sog. politischen Rechte, soweit es sich um die
Bildung von Organen des Staats-- oder der Kreieverbände handelt, grundsätzlich nur Badenern zu.
Bezüglich der aktiven Beteiligung an der Gemeindeorganisation ist diese Schranke zugunsten der
Reichsangehörigkeit durchbrochen. Walz, Bad. Staatsrecht, S. 21.