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weil ihre Abänderung nur im Wege der Reichsgesetzgebung vorgenommen werden sollte.
Dem Kaiser ist als dem erblichen Vertreter der Gesamtheit der
Bundesstaaten, welchen die Souveränität über das Reichsland zu-
steht, die Ausübung der Staatsgewalt durch § 3 Abs. 1 des Ver-
einigungsgesetzes vom 9. Juni 1871 übertragen worden. Hieran ist
festzuhalten.“ Man wollte also durch die Aufnahme des § 1 des Entwurfs keine
Anderung des bestehenden Rechtszustandes herbeiführen, sondern nur den Anschein einer
Anderung des früheren Rechts vermeiden 5.
Der Kaiser übt die Staatsgewalt aus, d. h. er hat alle Machtbefugnisse, welche
nach dem in Elsaß-Lothringen geltenden Recht dem Staatsoberhaupt zustehen. Das
elsaß-lothringische, also gegebenfalls auch das frühere französische Recht ist für die
Kompetenz der Kaisergewalt maßgeblich. Dieselbe erstreckt sich auf alle Landesangelegen-
heiten, soweit nicht das Reich als solches zuständig ist.
Während nach Art. 5 der französischen Verfassung vom 14. Januar 1852 der
Kaiser der Franzosen dem Volke gegenüber verantwortlich war, die Minister dagegen
als höchste Beamte nur die rechtliche, nicht auch die politische Verantwortlichkeit für
die von ihnen gegengezeichneten Regierungshandlungen trugen 6, trifft nach dem Staats-
recht der deutschen Staaten den Landesherrn keine Verantwortlichkeit. Dieser Grund-
satz kommt auch in § 4 des Gesetzes vom 9. Juni 1871 zum Ausdruck'’ und gilt
auch nach Art. 17 S. 2 der Reichsverfassung.
Während weiterhin nach französischem Staatsrecht — dem Grundsatz der Ge-
waltenteilung folgend — das Staatsoberhaupt nur chek du pouvoir executif ist, übt
der Kaiser in Elsaß-Lothringen die Staatsgewalt als ganze aus, allerdings nicht un-
beschränkt, sondern nach Maßgabe der bestehenden gesetzlichen Schranken, insbesondere
auch unter Mitwirkung der hierzu berufenen Organe 7a. So ergeht bei der Gesetzgebung
der Gesetzesbefehl (Sanktion) allerdings vom Kaiser; zum gültigen Zustandekommen
des Gesetzesinhalts ist dagegen die Mitwirkung des Landtags erforderlich. Die Recht-
sprechung andrerseits wird durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Richter
„im Namen des Kaisers“ ausgeübt. Alle Anordnungen und Verfügungen des Kaisers
bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Statthalters oder seines Stell-
vertreters, der dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt (§ 2 Abs. 4 V.G.). In der
Verwaltung ist die Zuständigkeit der Behörden eine gesetzlich bestimmte, die willkürlichen
Anderungen nicht unterworfen werden darf. «
Die unmittelbare Landesverwaltung wird allerdings nicht vom Kaiser ausgeübt,
vielmehr hat er nur die Oberleitung, wie dies auch schon in der französischen Ver-
fassung von 1852 zum Ausdruck kommt. Sovweit aber eine Delegation auf die Minister
nicht stattgefunden hat, tritt der Kaiser als Staatsoberhaupt selbständig handelnd auf.
Die Akte, mit welchen das Staatsoberhaupt in die Verwaltung selbsthandelnd eingreift,
wurden nach früherem Recht als Dekrete bezeichnet, und man unterschied hierbei Einzel-
5 Die Folge der bloßen Organstellung des Kaisers ist es auch, daß Beleidigungen der An-
gehörigen des preußischen Königshauses, die von Nichtpreußen in E.-L. begangen werden, nicht nach
96 f., sondern nach §§ 185 f. N. Str. G. B. zu bestrafen sind. R.O. H.G. in Puchelts Z. 5 S. 128,
R.G.E (Str.) v. 17. April 1884 B. G. 10 S. 312 u. v. 26. April 1883 B.G. 17 S. 334. Der
Kaiser genießt als solcher jedoch erhöhten strafrechtlichen Schutz. §§ 80, 94, 95 R. Str.G.B.
* Dufour, Droit administratif, 1 Nr. 122 f. Durch Art. 2 des Senatuskonsults vom
8. Sept. 1869 wurde die Verantwortlichkeit der Minister wieder eingeführt. Leoni S. 49 N. 1.
* Der Wortlaut dieses Paragraphen ist: „Die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers
bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, der dadurch die Verantwortlich-
keit übernimmt.“ Mit dem Gesetze v. 4. Juli 1879 ist an Stelle des Reichskanzlers der Statt-
halter getreten. . s»
TIBondereigentlichen Neßierungsgewalt ist wiederum die Kommandogewalt des
Kaisers zu unterscheiden; Akte der letzteren müssen nicht schriftlich erfolgen und sind auch nicht gegen-
eichnungspflichtig; sie haben sich jedoch auf das Gebiet des militärischen Befehls zu beschränken.
Vglgl. Rehm, Oberbefehl und Staatsrecht, 1913 S. 16 f. Die Kommandogewalt äußert sich z. B.
in der Ernennung und Pensionierung der Offiziere der Gendarmerie. Die Landesregierung hat
hierbei sozusagen gar keinen Einfluß; es erfolgt lediglich eine Anfrage bei dem Statthalter, ob gegen
die Person des betreffenden Offiziers Bedenken vorliegen. ·
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