Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XXVI. Das öffentliche Recht des Reichslandes Elsaß-Lothringen. (26)

36 Zweiter Teil. Die Verfassung Elsaß-Lothringens und die Behördenorganisation. § 10 
verfügungen (décrets speéeciaux oder individuels) und allgemeine Regeln (déerets. 
réglementaires) 3. Nach französischem Staatsrecht war beim Erlaß der décrets 
spéciaux eine Mitwirkung des Staatsrats erforderlich; da nun für diese letztere Staats- 
einrichtung in Elsaß-Lothringen kein gleichwertiger Ersatz geschaffen worden ist, ist der 
Kaiser allein zum Erlasse der fraglichen Verordnungen befugt ?. Ein großer Teil der 
landesherrlichen Befugnisse des Kaisers ist übrigens dem jeweiligen Statthalter in Person 
zur Ausübung übertragen worden 10; es handelt sich vorzugsweise um solche An- 
gelegenheiten, die in den deutschen Einzelstaaten gewöhnlich in der Ministerialinstanz 
erledigt werden. Nach der in gewissen Beziehungen noch in Geltung gebliebenen 
französischen Verfassung vom 14. Januar 1852 und dem Senatsbeschluß vom 25. De- 
zember 1852 sind als dem Staatsoberhaupt zustehende Regierungsrechte in erster Linie 
hervorgehoben: der Befehl über die Landtruppen und die Marine, die Befugnis, den 
Krieg zu erklären, Friedens-, Allianz= und Handelsverträge abzuschließen ½1, das Recht, 
den Belagerungszustand zu erklären und das Begnadigungsrecht. 
I. Bezüglich des ersteren dieser beiden letztgenannten Regierungsrechte besteht 
eine lebhafte Streitfrage. Nach Leonii:s (S. 50) sind die Vorschriften des französischen 
Gesetzes vom 9. August 1849 in Kraft geblieben. Nach Laband!!s (IV 4 S. 45) 
dagegen ist die diesbezügliche Zuständigkeit der Einzelstaaten weggefallen, da nach 
Art. 68 R.V. den Landesherren mit Ausnahme von Bayern die Möglichkeit genommen 
ist, für ihr Gebiet den Belagerungszustand zu verhängen; der Belagerungszustand ist 
nämlich nach der Ansicht des genannten Gelehrten Ausfluß des militärischen Ober- 
befehls, der nur dem Kaiser zusteht, weiterhin aber bewirkt die Verhängung des 
Belagerungszustands eine Aufhebung oder Abänderung von Reichsgesetzen, Maßnahmen, 
zu denen die Regierungen der Einzelstaaten niemals befugt sein können. Bezüglich 
des erstgenannten Grundes könnte man sich allerdings Zweifeln hingeben, da es sich 
bei der Verhängung des Belagerungszustandes weniger um die Ausübung des mili- 
tärischen Oberbefehls als um eine Handhabung der Sicherheitspolizei handelt. Daß 
die Verstärkung der letzteren durch Heranziehung der militärischen Machtmittel ge- 
schieht, benimmt ihr nicht den politischen Charakter, sondern bewirkt nur eine Kom- 
petenzunion in der Person des Oberbefehlshabers. Dagegen ist der an zweiter Stelle 
genannte Gesichtspunkt durchschlagend; da mit der Verhängung des Kriegszustands 
die Aufhebung von Reichsgesetzen verbunden ist, so kann ihn in Elsaß-Lothringen der 
58 Ducrocc, Cours de droit admin., 3. A., Nr. 44 u. 45. O. Mayer, Französ. Ver- 
waltungsrecht, S. 35 f. Dufour I N. 43, bezeichnet die décr. régl. als „les actes destinés à 
former le complément de la loi“ und die decr. spéec. als ales actes dont lobjet est d'appliquer 
les règles émanées du législateur ou de l'administration elle-même“. Das Verhãltnis der 
déer. régl. zu den lois wird von demselben Schriftsteller treffend dahin gekennzeichnet: „la loi doit 
ötre uniforme et permanente, son office est de fixzer par de grandes vues les maximes 
générales du droit, d’établier des principes féconds en conséquences.“ 
"* Vgl. Leoni S. 51. » 
10 Vgl. hierüber unten 12. Trotz dieser Ubertragung handelt es sich aber um Rechte des 
Staatsoberhauptes; anders verhält es sich bezüglich derjenigen Befugnisse, die gemäß § 18 des Ge- 
setzes v. 30. Dez. 1871 (Ges. Bl. 1872 S. 49) den Zentral= oder Bezirksbehörden übertragen werden 
konnten. (Vgl. Verf. v. 5. Mai 1873, G. Bl. S. 85, u. v. 10. Febr. 1875, G. Bl. S. 57.) Durch 
diese Ubertra ung hat die Zuständigkeit des Kaisers aufgehört. 
11 vigt estimmungen sind aber durch das an die Stelle getritene Reichsstaatsrecht außer 
Kraft getreten, und zwar, was den Oberbefehl betrifft, deswegen, weil E-L. kein besonderes Kontingent 
hat, und weil serner, wenn ein solches gebildet würde, dem Kaiser über dasselbe schon kraft Art. 64 
R. . der Oberbefehl zustehen würde. Das Recht des Kaisers, Verträge mit auswärtigen Staaten 
uschließen, beruht auf Art. 11 R.V. And. Ans. Leoni, der in konsequenter Durchfür rung seiner 
heorie annimmt, daß der Kaiser die Verträge, bei welchen er im ausschließlichen Landesinteresse 
von E.-L. handelt, in seiner Eigenschaft als Landesherr von E.-L. schließt. 
1½ Ebenso Leoni-Mandel S. 119 f., auch Georg Meyer, Staatsrecht, und Arndt, 
Komm. z. R V., Bem. 1 zu Art. 68. 
13 So auch Haenel, Staatsrecht; Haldy, Das in Preußen geltende Recht der Verhängung 
des Belagerungszustandes, S. 30 f Fleischmann (in v. Stengel-Fleischmanns Wörterbuch S. 400) 
ist der Ansicht, daß nach dem Entwicklungsgang des jetzigen Rechtszustandes man wird sagen müssen, 
daß der dem Kaiser übertragene Oberb sehl eine Befehlsgewalt der Einzelstaaten zum Broccke der 
Sicherheitspolizei nicht ohne weiteres, sondern nur dann ausschließen soll, wenn der Einzelstaat in 
den Oberbefehl des Kaisers eingreift, was im Einzelfalle zu prüfen bleibe. 
  
  
 
	        
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