8 11 Der Bundesrat. 39
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als Elsaß-Lothringen, wie bereits hervorgehoben, nicht Mitglied des Reiches, sondern
Reichsland war, und der Gedanke, daß das Reich sein eigenes Mitglied werde, als
absurd erscheinen mußte; politische Bedenken, weil einmal die Auffindung eines Weges nicht
möglich schien, eine Vermehrung der Bundesratsstimmen ohne eine Machtverschiebung
zugunsten Preußens durchzuführen, und ferner, weil auch die Frage des Instruktions-
rechts bedeutende Schwierigkeiten machte. Der vielfach vorgeschlagene Ausweg einer
Beschränkung des Stimmrechts auf wirtschaftliche Angelegenheiten erschien der Regierung
nicht gangbar, da, wie der Staatssekretär des Innern in der Reichstagssitzung vom
26. Januar 1911 und in der Komission (Komm.-Ber. S. 6) ausführte, eine scharfe
Grenze zwischen politischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten nicht gezogen werden
könne. Nachdem jedoch die Kommission mit überwiegender Majorität die Gewährung
des Stimmrechts an Elsaß-Lothringen beschlossen hatte, gaben die verbündeten
Regierungen den dringenden Wünschen der Volksvertretung schließlich nach und legten
der Kommisston einen Entwurf vor, der sodann mit geringen redaktionellen Abweichungen
Gesetz geworden ist. Danach wurde in die Reichsverfassung als Art. 6 a folgende
Vorschrift eingestellt (Art. 1 des Gesetzes über die Verfassung Elsaß-Lothringens):
„Elsaß-Lothringen führt im Bundesrat drei Stimmen, solange die Vorschriften
in Artikel 2 § 1, § 2 Abs. 1 und 3 des Gesetzes über die Verfassung Elsaß-
Lothringens vom 31. Mai 1911 in Kraft sind.
Die elsaß-lothringischen Stimmen werden nicht gezählt, wenn die Präsidialstimme
nur durch den Hinzutritt dieser Stimmen die Mehrheit für sich erlangen oder im
Sinne des Artikels 7 Abs. 3 Satz 3 den Ausschlag geben würde. Das gleiche gilt
bei der Beschlußfassung über Anderungen der Verfassung.
Elsaß-Lothringen gilt im Sinne des Artikels 6 Abs. 2 und der Artikel 7 und 8
als Bundesstaat.“
Die Stimmverleihung an Elsaß-Lothringen ist durch diese Vorschrift von einer
Resolutiobedingung abhängig gemacht worden, nämlich davon, daß die Vorschriften in
Artikel 2 § 1, § 2 Abs. 1 und 3 des Verfassungsgesetzes in Kraft bleiben, d. h. sie
soll nur so lange gelten, als die rechtliche Stellung des Kaisers und des kaiserlichen
Statthalters, wie sie durch das neue Verfassungsgesetz geordnet sind, unberührt bleiben.
Der Eintritt der Resolutivbedingung ist weiterhin in das Wollen und Belieben des
Reiches gestellt. Ein Reichsgesetz genügt, um das ganze Verfassungsgesetz und damit
das Stimmrecht im Bundesrat mit einem Schlage zu beseitigen, ohne daß den ver-
fassungsmäßigen Organen des Landes hiergegen ein Widerspruch zustünde. Freilich
bedarf es zu einer solchen Anderung gemäß Art. 78 Abs. 1 R.O. einer gqualifizierten
Mehrheit: Artikel 6 a ist als Bestimmung der Reichsverfassung nur dann abänderbar,
wenn sich nicht 14 Stimmen im Bundesrat dagegen aussprechen.
Nach Abs. 4 des Art. 6a gilt Elsaß-Lothringen im Sinne des Art. 6 Abs. 2
und der Art. 7 und 8 als Bundesstaat. Mit diesen Worten bringt der Gesetzgeber
zum Ausdruck, daß es sich eigentlich um die juristische Fiktion handelt, als sei
Elsaß-Lothringen ein Bundesstaat. Der Fiktionscharakter wird noch dadurch verstärkt,
daß Art. 6a Abs. 4 die Fiktion nur auf gewisse Bestimmungen ausdehnt, was aller-
dings mehr auf gesetzestechnische Ursachen zurückzuführen ist.
II. Dem Recht der einzelnen deutschen Staaten und Elsaß-Lothringens auf
Ausübung des Stimmrechts im Bundesstaat entspricht in gewissem Sinne auch eine
Pflicht, von dem Stimmrecht Gebrauch zu machen, und zwar nach einer doppelten
Richtung, einmal in Beziehung auf die Regierung des eigenen Landes und zweitens
in Beziehung auf das Reich. (Laband I S. 240.) Die Ausübung des Stimmrechts,
d. h. des Mitgliedschaftsrechts des Einzelstaates im Bundesrat bildet eine der vor-
nehmsten Regierungsbetätigungen der Bundesstaaten. Eine pflichtgemäß handelnde
Regierung muß daher für die Geltendmachung des Stimmrechts, und zwar sowohl in
Landes= wie in Reichsangelegenheiten, Sorge tragen. Dem Reiche gegenüber besteht
jedoch hierzu eine rechtliche Pflicht des Einzelstaates nicht. Erscheinen die Vertreter
von Einzelstaaten überhaupt nicht, oder erscheinen sie ohne Instruktion, so werden ihre