8 14 Die staatsrechtliche Natur des Reichslandes. 59
Staat als solcher ist der primäre Begriff; erst bei seiner Existenz kann man auch
von Staatsorganen sprechen.
Rosenbergt, der grundsätzlich Jellineks Auffassung bezüglich der staats-
rechtlichen Stellung Elsaß-Lotsringens beitritt, verwirft dessen Begründung mit dem
besonderen Hinweis, daß der Landesausschuß kein Staats-, sondern ein Reichsorgan
war, wenn auch nur ein mittelbares; durch das Gesetz vom 2. Mai 1877 sei nicht
der juristische Charakter des Landesausschusses verändert, sondern lediglich seine Zu-
ständigkeit erweitert worden; durch die Erweiterung der Zuständigkeit eines Reichs-
organs könne aber Elsaß-Lothringen nicht Staatsfragment geworden sein. Rosen-
berg tritt aber überhaupt der bisher geübten Einteilung in Staaten und Nichtstaaten
entgegen 2. Das Völkerrecht, so sagt er, unterscheidet nicht bloß Gebiete, die einen
Herrn haben, von Gebieten, die keinen Herrn haben, sondern es unterscheidet auch
Gebiete, die völkerrechtliche Rechtssubjekte sind, von Gebieten, die völkerrechtliche Rechts-
objekte sind 235. „Erstere heißen Staaten, für letztere besteht noch kein fester Sprach-
gebrauch.“ Diejenigen Gebiete, welche weder Staaten noch Staatsteile sind, will
R. nach dem Vorbilde des nordamerikanischen Staatsrechts als „Territorien“ be-
zeichnet wissen. Er teilt die Territorien dann wieder ein in völkerrechtliche, d. h.
in solche begrenzten Teile der Erdoberfläche, welche von einem Staate beherrscht werden,
demselben aber nicht inkorporiert sind, welche also einem Staate gehören, aber nicht
Bestandteile desselben sind, und staatsrechtliche Territorien, d. h. Gebiete, welche
Bestandteile eines Gesamtstaates, aber weder selbst Gliedstaaten noch Bestandteile eines
solchen sind (S. 664). Elsaß-Lothringen war nach R. vom 2. März 1871 bis zum
28. Juni 1871, dem Tage der Einverleibung in das Deutsche Reich, lediglich völker-
rechtliches Territorium; mit dem 28. Juni 1871, dem Tage des Inkrafttretens des
Gesetzes vom 9. Juni 1871, betr. die Vereinigung von Elsaß und Lothringen mit dem
Deutschen Reich, wurde zunächst nur eine unvollkommene Inkorporation insofern be-
wirkt, als sich die Vereinigung auf das völkerrechtliche Verhältnis zu den anderen
Staaten bezog. Erst mit dem 1. Januar 1874, dem Tag des Inkrafttretens des Ge-
setzes vom 25. Juni 1873 (§ 2), betr. die Einführung der Reichsverfassung in Elsaß-
Lothringen, soll nach R. aus der völkerrechtlichen eine staatsrechtliche Territorialgewalt
des Reiches über Elsaß-Lothringen geworden sein.
Die Rosenberg'sche Theorie 2" hat auf den ersten Blick etwas Bestechendes, bei
näherem Zusehn zerfließt indessen der Begriff des Territoriums nicht weniger wie der-
jenige des „Landes“, mit dem er übrigens, da es sich nur um eine llbersetzung handelt,
identisch ist; der ursprüngliche Begriff des Territoriums betrifft . Gebiete, die weder
Staaten noch Staatsteile sind“ (Rosenberg S. 494), völkerrechtliche Territorien, also auf
deutsch: Schutzgebiete. Um ein solches Territorium handelt es sich bei Elsaß-Lothringen
jetzt auf keinen Fall mehr; ob auf Elsaß-Lothringen bis zum 28. Juni 1871 oder bis
zum 1. Januar 1874 eine solche Bezeichnung anwendbar war, kann dahingestellt bleiben ?5.
Bis zum 1. Januor 1874 hat sich der Begriff des Territorimus, wenn man bei dem
Beispiel von Elsaß-Lothringen bleibt, stark gewandelt; faßt man aber erst die Ent-
wicklung nach 1874 bis zum Jahre 1911 einschließlich ins Auge, so erkennt man, daß
2: Annalen 1903 S. 498. 4
22 R. spricht allerdings (a. a. O. S. 494) von „Staaten und herrenlosen Ländern“; so ist
indessen der Jellineksche Gegensat auf keinen Fall aufzufassen Staatsfragmente sind doch regelmäßig
nicht herrenlos! Im Gegenteil, der Umstand, daß fie einer fremden Herrschergewalt unterstehen,
benimmt ihnen die Eigenschaft als Staat. Z Z ç **2°
23 Diese Einteilung erinnert sehr an die Rehmsche Unterscheidung zwischen subjektiver und
objektiver Staatsgewalt. Vgl. oben Anm. 11. «
· «Bruck,VerfassungösunchrwaltungsrechtE.-L.s,lS.31f.,tstRofenbergbes
dingungslos beigetreten. Z
* In der Regel vereinigt der Eroberer das eroberte Gebiet ohne weiteres mit seinem Staats-
gebiet; bezüglich Elsaß-Lothringens machten sich Schwierigkeiten insofern geltend, weil die Ver-
dündeten gemeinschaftlich eine Eroberung gemacht hatten und man sich über die Verwendung des
eroberten und abgetretenen Gebietes von vornherein noch nicht klar war; daher das Provisorium bis
1874. Hatte Preußen allein den Krieg geführt, so wäre die Einverleibung in den preußischen Staat
wohl eben o rasch vor sich gegangen wie 1866 hinsichtlich Hannover, Kurhessen usw.