62 Zweiter Teil. Die Verfassung Elsaß-Lothringens und die Behördenorganisation. 8 14
et Moselle 35. Nach der Einverleibung des Reichslands hätte nun das Reich von
vornherein die Wahl gehabt, die Verwaltung und namentlich auch die Finanzverwaltung
so vollständig in die Hand zu nehmen, daß nicht nur die gesamten Einnahmen aus
Steuern, Gebühren und aus nutzbarem Eigentum in die Reichskasse geflossen, sondern
daß auch alle Auslagen und Aufwendungen aus der gleichen Kasse zu decken gewesen
wären. Das Einschlagen dieses Weges wäre aber vom staatsmännischen Standpunkt
aus nicht nur unpraktisch gewesen, sondern hätte sich auch mit dem ganzen Charakter
des Reiches, das, anders wie der französische Staat, kein Zentralstaat ist, in Wider-
spruch gesetzt. Das Reich hat bei der Einverleibung Elsaß-Lothringens von vornherein
darauf verzichtet, sein Vermögen mit demjenigen des Reichslandes zu vereinigen; mit
dem gleichen Moment entstand aber aus dem früheren französischen Staatsgut, und zwar
sowohl aus dem Verwaltungs= wie aus dem Finanzvermögen, ein zweckgebundenes Sonder-
vermögen, der elsaß-lothringische Landesfiskus, und gleichzeitig erhielt das Land eine aus-
reichende Selbstverwaltung. Hätte das Reich gewisse Bestandteile des ehedem französischen
Staatsvermögens an sich gezogen, was seinerzeit denkbar gewesen wäre, so hätte es dem
Lande dafür Zuschüsse gewähren müssen, damit diesem die Möglichkeit der Durchführung
der mannigfachen staatlichen Kulturaufgaben geblieben wäre. Nachdem aber einmal Elsaß-
Lothringen als eine juristische Person und zwar des öffentlichen Rechts vom Reiche
anerkannt war, konnte und mußte es als ausgeschlossen gelten, daß das Reich nach-
träglich irgendwelche in Elsaß-Lothringen gelegene Domänen für sich beanspruchen
könnte; einem solchen Verlangen stände nunmehr auch der Titel der Ersitzung gegen-
über. Das Reich kann daher ebensowenig elsaß-lothringische Domänen als sein Eigen-
tum beanspruchen, wie z. B. die Landesregierung elsaß-lothringische Gemeindewaldungen
ohne Zustimmung der betreffenden Gemeinde zu Staatswaldungen machen könnte. Das
Reichsland als juristische Person des öffentlichen Rechts ist in seinem fiskalischen Besitz
dem Reiche gegenüber geradeso geschützt wie ein Bundesstaat oder wie jede sonstige
öffentlich-rechtliche juristische Persönlichkeit.
II. Die Verfassung vom 31. Mai 1911 hat dem Reichsland die so heiß
begehrten drei Bundesratsstimmen gebracht; es wird sich fragen, ob hierdurch der
staatsrechtliche Charakter von Elsaß-Lothringen eine Anderung erfahren hat. Die
herrschende Meinung 8 verneint mit Recht die gestellte Frage. Durch die Teil-
nahme an den Beschlüssen des Bundesrats ist Elsaß-Lothringen ein beträchtlicher
Einfluß auf die Reichsregierung eingeräumt worden; es übt nunmehr Mitgliedschafts-
rechte im Reiche aus, ohne eigentlich Mitglied zu sein. Dies mag unlogisch und mit
den Grundsätzen der R.V. nicht übereinstimmend genannt werden 0, läßt sich jedoch
nicht wegleugnen. Um die den Bundesrat betreffenden Vorschriften auf Elsaß-Lothringen
anwenden zu können, hat der Gesetzgeber den Weg der Fiktion gewählt: Nach Art. 1
Abs. 4 gilt Elsaß-Lothringen im Sinne des Art. 6 Abs. 2 und der Art. 7 und 8
als Bundesstaat, d. h. es wird so behandelt, als wäre es ein Bundesstaat, eine Fiktion,
die noch dadurch verstärkt wird, daß nicht der Kaiser, sondern der Statthalter die drei
Bundesratsbevollmächtigten zu instruieren hat; es hat aber nie und nimmer mit seiner
jetzigen Verfassung den rechtlichen Charakter eines Staates erhalten. Vor allem ist
die Gewährung des Stimmrechts eine im Gesetzeswege nach Maßgabe des Art. 78
R.V. jederzeit widerrufliche, ohne daß es hierzu der Zustimmung der elsaß-lothringischen
Landesregierung bedürfte. (Vgl. § 78 II R.V.) Weiterhin ist das Stimmrecht Elsaß-
Lothringens davon abhängig, daß die Landesstaatsgewalt in Elsaß-Lothringen durch
den Kaiser ausgeübt wird, daß an der Spitze der Landesregierung ein Statthalter
steht, und daß diesem landesrechtliche Befugnisse durch den Kaiser übertragen werden
können. Das Reich hat damit vollständig freie Hand hinsichtlich einer etwaigen
Anderung der elsaß-lothringischen Verfassung behalten 1. Elsaß-Lothringens Einfluß
38 Vgl. Reichstagsverh. v. 1871 Bd. III (Anl.) Nr. 133 S. 358, Nr. 169 S. 428.
# Laband II S. 235; Heim S. 10 f.; A. Schulze S. 13: Rehm, Vortr., a. a. O.
Abw. Ans. Nelte, Off. Arch. Bd. 27 S. 21 und 28 S. 71, und Graf Posadowsky in Straßb.
Post v. 15. Juni 1911 Nr. 683. 40 Laband a. a. O. S. 235.
“1 Materiell betrachtet hat das Reich sich auch insofern Einfluß auf die Instruktion der