814 Die staatsrechtliche Natur des Reichslandes. 63
auf die Ausgestaltung der Verfassung ist dagegen insofern vom staatsrechtlichen
Standpunkte aus völlig ausgeräumt, als bei Abstimmungen des Bundesrats über elsaß—
lothringische Verfassungsfragen die elsaß lothringischen Bundesratsstimmen nicht gezählt
werden " (Art. 1 Abs. 3 S. 2). Ein Land, das aber gar keinen Einfluß auf die
Ausgestaltung oder Beibehaltung seiner Verfassung hat, dem das Selbstbestimmungs-
recht oder die Verfassungshoheit fehlt, kann einen Anspruch auf die Bezeichnung Staat
nicht erheben. Von allen öffentlich-rechtlichen Verbänden kommt Elsaß-Lothringen
natürlich dem Staatsbegriff am nächsten; es unterscheidet sich von anderen Verbänden,
insbesondere von Provinzen turmhoch dadurch, daß es eine Landesgesetzgebung hat, die
sich z. B. von der Autonomie preußischer Provinzen wesentlich unterscheidet, und daß
es mit dazu berufen ist, an der Reichsregierung teilzunehmen. Der letztere Umstand
kann aber keinesfalls dazu verwertet werden, dem Reichsland Staatscharakter beizu-
messen. Die R.V. bestimmt nirgends, daß nur Staaten Stimmen im Bundesrat führen
können. Dieser selbstverständliche Satz ist durch das elsaß-lothringische Verfassungs-
gesetz bestätigt worden. Die Landesgesetzgebung dagegen ist keine solche aus eigenem
Recht; wenn auch die Festsetzung des Gesetzesinhalts durch den elsaß-lothringischen
Landtag erfolgt, so geschieht doch die Erteilung des Gesetzesbefehls (Sanktion) durch
ein Organ des Reiches, den Kaiser. Die gesamten Schlußfolgerungen, die Nelte 13
daher aus den beiden vorbezeichneten Momenten, Landesgesetzgebung und Verleihung
von Bundesratsstimmen, zieht, sind mithin Trugschlüsse, auch wenn der genannte Schrift-
steller seine Folgerungen in die abgeschwächte Form „eines neuen Einzelstaats mit be-
schränkter Kompetenz“ kleidet. Auch die Bezeichnung des Reichslandes als Staat mit
nur temporärem Charakter " wäre irrig; Elsaß-Lothringen ist nicht etwa Staat, so-
lange das Reich es will, „kein bedingtes Definitivum“ (Nelte a. a. O. S. 93), und
zwar deshalb nicht, weil, um dies zum wiederholten Male zu betonen, ihm die originären
Staatshoheitsrechte völlig abgehen.
Elsaß-Lothringen hat insbesondere auch in Zukunft keine Gebietshoheit.
Das Reich kann die Grenzen Elsaß-Lothringens auch gegen den Willen des Landes
verändern, also z. B. das Gebiet des Reichslandes durch Abtretung von Landesteilen
an die Nachbarstaaten verkleinern "5. Es hat ferner, wie aus dem oben Gesagten zu
entnehmen ist, weder die Verfassungshoheit, d. h. die Fähigkeit, aus eigener
Kraft seine Verfassung zu ändern, noch die Personalhoheit, d. h. die eigene
ursprüngliche Herrschergewalt über die im Lande lebenden Bewohner. Auch eine
Militärhoheit kommt ihm nicht zu. Es gibt kein reichsländisches Kontingent und
keine reichsländischen Truppen "““. Während in den Bundesstaaten bei Reibungen
zwischen Militär= und Zivilverwaltung die letztere das Recht und die Möglichkeit hat,
Mißstände im Landtag zur Sprache zu bringen, kann in Elsaß-Lothringen kein Mitglied
des Landtags einen Bevollmächtigten der Militärbehörden zur Rechenschaftsablage auf-
fordern, sondern nur die Landesregierung ersuchen, die Militärbehörde um Aufklärung
zu bitten. Eine parlamentarische Behandlung solcher Angelegenheiten ist nur im Reichs-
tag möglich.
Bundesratsbevollmächtigten gewahrt, als der Kaiser, das Organ der Reichsgewalt, den Statthalter
jederzeit absetzen kann.
4# Auch die Verfassung der Bundesstaaten kann durch das Reich vermöge seiner „Kompetenz-
kompetenz“ im Laufe der Zeit geändert werden; nur souveräne Staaten sind vor solchen Vorfa sungs-
wandlungen gänzlich geschützt. Aber einmal ist diese Befugnis besonders erschwert (Art. 78 II R.V.),
und ferner sind die betreffenden Staaten an der Schaffung solcher die R.V. abändernder Gesetze mit-
beteiligt durch die Stimmabgabe beim Bundesrat.
(43 Off. Arch. 28 S. 71. “ Vgal. darüber Jellinek, Allg. Staatslehre, S. 87.
“5 Durch die Zusatzkonvention zum Frankf. Friedensvertrag v. 12. Okt. 1871 (Art. 10) sowie
zwei Staatsverträge v. 24.—27. Aug. 1872 und v. 28.—31. Ang. 1872 hatte das Reich bereits
elsaß-lothringische Grenzbezirke an Frankreich zurückgegeben, ohne die damalige Landesregierung zu
befragen. Dl. Nosenberg, Zeitschr. f. Staatsw. 66 S. 345.
“8 V#gl. Rehm, Vortr., S. 37. Die Bezeichnung „Unterelsässisches — bat
nür geographische Bedeutung. Sogar die eine Landeseinrichtung darstellende Gendarmerie, die neben
bürgerlichen Vorgesetzten auch einen militärischen Befehlshaber hat, ist dem preußischen Kriegs-
ministerium mit unterstellt.