70 Zweiter Teil. Die Verfassung Elsaß-Lothringens und die Behördenorganisation. 8 17
Den Kreisdirektoren sind ferner in einer ganzen Reihe von Fällen durch neuere
Gesetze und Verordnungen gewisse Funktionen übertragen, deren Aufzählung hier zu
weit führen würde 21,
Die Kreisdirektoren sind Mitglieder der Kreisersatzkommissionen; sie
haben gemeinschaftlich mit den Bezirkskommandeuren die Abhaltung des Musterungs-
geschäfts und die Vorbereitung des Aushebungsgeschäftes zu leiten 22.
Zu erwähnen ist noch, daß in den Stadtkreisen Straßburg, Metz und Mülhausen
die Gemeindepolizei, soweit sie nicht nach näherer Bestimmung des Ministeriums (früher
des Oberpräsidenten) der Gemeindeverwaltung verblieben ist, durch einen Polizeidirektor
(präsidenten) unter Aufsicht des Bezirkspräsidenten verwaltet wird #5. Während in Mül-
hausen die Befugnisse des Polizeidirektors dem dortigen Kreisdirektor übertragen sind“,
sind in Straßburg und Metz besondere Polizeidirektoren bestellt. Dieselben haben für
den ihnen zugewiesenen Amtsbereich alle Rechte der Bürgermeister, insbesondere das
Recht, Polizeiverordnungen zu erlassen. Darüber hinaus haben sie in vielen Fällen
die den Kreisdirektoren in den Landkreisen zustehenden Befugnisse ?6.
Über die Zuständigkeit der Bürgermeister wird weiter unten bei der Darstellung
des Gemeinderechts gehandelt werden.
§+ 17. Die richterlichen Behörden. Zur geit der Vereinigung Elsaß-Lothringens
mit dem deutschen Reiche beruhte die Gerichtsverfassung des Landes auf den unter der
ersten franzbsischen Republik und unter dem ersten Kaisertum ½ ergangenen gesetzlichen
Bestimmungen.
I. Dieser gesetzlichen Regelung ist allerdings in Frankreich ein Jahrhunderte währender Kampf
der Krone mit den Gerichten vorausgegangen ?. Seit dem Anfange des 14. Jahrhunderts hatte
nämlich das Pariser Parlament, so hieß der oberste Gerichtshof, die Zivilgerichtsbarkeit vollständig
übernommen, indem es sich von der ursprünglichen Fiktion, als urteile das Parlament nur als be-
ratendes und unterstützendes Kollegium des Königs, lossagte und grundsätzlich die Selbständigkeit
(souveraineté) der Justiz neben dem Könige behauptete. Dies ging so weit, daß an Stelle des
königlichen Ernennungsrechtes das Recht des Gerichtshofs trat, seine Mitglieder durch Wahl neuer
zu ergänzen, ein Ernennungsmodus, der bald zur Käuflichkeit der Stellen führte. Mitglieder des
Parlaments oder der in den Provinzen diesem nachgebildeten cours souveraines wurden mehr und
mehr nur die reichen und vornehmen Familien des Landes (voblesse de robe), die ihren Macht-
bereich ständig zu erweitern suchten. Nur diejenigen königlichen Ordnungen (ordonnances), die das
Parlament durch Einregistrierung feierlich anerkannt hatte, sowie die coutüme bildeten die Rechts-
quellen für diese Gerichtshöfe, die einen Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Recht nicht
kannten.
Da die königlichen Beamten (Intendanten) sich an die Auslegungen der Parlamente vielfach
nicht hielten und ihrerseits auch nicht registrierte Ordnungen der Könige handhabten, konnten
Reibungen nicht ausbleiben. Die Parlamente erklärten Verwaltungshandlungen für ungültig, und
der König schützte seine Beamten bei Ausübung ihrer Tätigkeit. Hierbei kam ihm vor allem die
Idee der zurückbehaltenen Rechtspflege (justice retenue), nämlich derjenigen Gerichtsbarkeit zustatten,
VBgl. die Aufzählung bei Leoni S. 100 N. 2. Zu berichtigen ist das dort Gesagte in
zwei Punkten: 1. Die Erteilung der Erlaubnis zum Kleinhandel mit Branntwein usw. richtet sich
nicht mehr nach dem § 4 Ges. v. 16. Mai 1877 (G. Bl. S. 21), sondern nach den einschlägigen Be-
stimmungen der Gewerbeordnung. 2. Die Ausstellung von Legitimationskarten für den Gewerbe-
betrieb im Umherziehen obliegt dem Bezirkspräfidenten. 3. Über die Beurkundung gewisser Verträge
durch den Kreisdirektor vgl. § 45 Ziff. 2 A.G. F.G.
72 Militär-Ersatz-Instruktion (G. Bl. 1872 S. 585) § 15 Nr. 4.
1#8 § 14 Abs. 2 u. 3 Verw. Ges. v. 30. Dez. 1871. Vgl. die Verfügungen des Oberpräfidenten
v. 11. Aug. 1872 (A. Al. f. Lothr. 1879 S. 47) und v. 28. Febr. 1873 (##rchte. Ztg. Nr. 60). Für
Mülhausen vgl. Min. Ver. v. 28. Mai 1889 (Z.Bl. S. 141).
24 § 14 Ges. v. 30. Dez. 1871. Z
?5 Vgl. z. B. § 2 Nr. 5 der deutschen Wehrordnung (3. Bl. f. d. Deutsche Reich 1875 S. 585);
§ 5 Ver. v. 28. März 1881, betr. Abwehr und Unterdrückung von Viehseuchen (G. Bl. S. 67); § 9
Ges., betr. die Jagdpolizei, v. 7. Mai 1883 und §§ 2, 4, 5 u. 9 der Ausf.Ver. v. 20. Juni 1883
(G. Bl. S. 57 u. 65) u. a. m.
[/§ 17) 1 Es kommen in Betracht insbes. die Gesetze v. 27. Vent. (Bull. des Lois III. sèrie Nr. 103)
und v. 20. April 1810 (Bull. des Lois IV. série Nr. 5351) und die Dekrete v. 30. März 1808,
6. Juli u. 13. Aug. 1810. 2 O. Mayer, Franz. V.R., S. 87 f.