$ 5. Quellen des Verwaltungsrechtes. 85
brochen, es gebühre dem durch eine Straßenverlegung geschä-
digten Straßenanlieger Schadenersatz. Die Praxis versucht diesen
Ersatzanspruch mit Hilfe zivilrechtlicher Formeln zu begründen.
In Wahrheit liegt aber in solchen Fällen ein lokales Gewohn-
heitsrecht vor, das auf der naturrechtlichen Theorie von der
Unverletzlichkeit der ‚‚wohlerworbenen Privatrechte‘“ fußt.°!
Ganz anders sind die Voraussetzungen für die Bildung neuen
Gewohnheitsrechtes.. Solange unter der Herrschaft einer ge-
schriebenen Verfassung der Staat den Befehl, der einen Rechts-
satz anordnet, aufrecht erhält, vermag eine abweichende Übung
der Beamten oder der Volksgenossen dagegen nicht aufzukom-
men. Im Bereiche des öffentlichen Rechtes kann das Gesetz
durch ein widersprechendes Gewohnheitsrecht nicht abgeändert
werden; dem Gewohnbeitsrecht fehlt gegenüber dem Gesetze die
„derogatorische Kraft‘.°* Wenn deshalb die Verfassungsgesetze
vorschreiben, daß die Ermächtigung zu Eingriffen in Eigentum
und Freiheit der Untertanen auf einem Gesetz im formellen Sinne
51 Vgl. darüber unten $ 17. — Weitere Beispiele oben 85, I, Ziff. 2.
52 Laband, Staatsrecht, II® S. 75. — Andrer Ansicht ein Urteil des
K. Sächs. Ob.-Verw.-Ger. v. 30. Mai 1907 (Jahrbücher des K. Sächs.
OVG. X 3.289). Das Urteil behauptet, sogar die Vorschriften der säch-
sischen Verfassungsurkunde über den Weg der Gesetzgebung seien durch
ein in der parlamentarischen Praxis entstandenes Gewohnheitsrecht
abgeändert worden. Damit kommen aber die Garantien ins Wanken,
die der Rechtstaat mit der Aufrichtung von Verfassungsurkunden einge-
führt hat. Gegen diese Wirkung des Gewohnheitsrechts spricht sich auch
der bayr, Verwaltungsgerichtshof aus, insbes. in einem Urteil v. 16. Feb.
1900 (Sammlung von Entsch. des bayr. Verwaltungsgerichtshofs XXI.
S. 103). Was als „derogierendes Gewohnheitsrecht‘‘ ausgegeben wird, ist
häufig nichts anderes als eine dieGesetzesabsicht verwirklichende restriktive
oder extensive Interpretation, die eine ununterbrochene Geltung erlangt
hat. Ein Beispiel bringt das Schweiz. Zentralblatt f. Staats- und Ge-
meinde-Verwaltung IV S.187: Die Zürcherische Gesetzgebung hat den
„Festnachtag‘‘ von Weihnachten, den 26. Dezember, zum öffentlichen
Ruhetag gemacht. Seit mehr als fünfzig Jahren hat jedoch die Praxis
angenommen, die Vorschrift gelte in den Jahren nicht, in welchen durch
die Feier des 26. Dezember drei aufeinanderfolgende Ruhetage entständen,
und diese Praxis ist von den Behörden vorbehaltlos angenommen worden.
In diesem Fall handelt es sich nicht um Abänderung eines Gesetzes durch
Gewohnbheitsrecht, sondern um eine vernünftige restriktive Auslegung des
Gesetzee.