Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Erster Band. A bis F. (1)

  
Bettel- und Wanderwesen 
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wanderfähig sind, darauf verweist, sich ander- 
wärts Arbeit und Unterhalt zu verschaffen. — 
Dem Bettler und Landstreicher gleich zu be- 
handeln ist derjenige, der im Sinne von Nr. 5 
sich durch eigene Schuld in einen Zustand versetzt 
hat, der ihn oder seine Angehörigen nötigt, durch 
Vermittlung der Behörde (d. h. im Wege der ge- 
ordneten APpflege) fremde Hilfe in Anspruch zu 
nehmen. Eigentümlich ist die Stellung dieser De- 
likte in § 361, der gleichzeitig verschiedene andere 
als gemeinschädlich gekennzeichnete Zuwiderhand- 
lungen, wie namentlich die gewerbsmäßige Prosti- 
tution, mit Strafe bedroht. 
Eine für die Beteiligten ernstliche Bedeutung er- 
halten die Strafandrohungen des § 361 erst durch 
die Hinzufügung des korrektionellen Arbeitszwan- 
ges des &# 362, der den Richter ermächtigt, den 
Uebeltäter der Landespolizeibehörde zu überwei- 
sen, die hierdurch ihrerseits befugt wird, die ver- 
urteilte Person bis zur Dauer von 2 Jahren ent- 
weder in einem Arbeitshaus unterzubringen oder 
zu gemeinnütziger Arbeit zu verwenden. Die Vor- 
schrift des § 362 ist nur in ihrer historischen Ent- 
wicklung verständlich. Man hat in allen Ländern, 
namentlich in Frankreich und England, nach dem 
30 jährigen Kriege die Notwendigkeit erkannt, 
zwischen wirklichen und zwischen scheinbaren Be- 
dürftigen zu unterscheiden, jene zu unterstützen, 
diese zur Arbeit zu zwingen; so sind die A- und Ar- 
beitshäuser, die Werkhäuser, die Bettlerdepots und 
ähnliche Einrichtungen entstanden, die den Arbeits- 
fähigen wieder zur Arbeit und zu geordnetem Le- 
benswandel zurückführen oder wenn ihm Unter- 
stützung gewährt werden muß, sie ihm in Gestalt 
von Arbeit gewähren wollten. Die Unterbringung 
durch die Landespolizeibehörde ist daher nicht ei- 
gentlich Strafe, sondern Anhalten zur Arbeit zum 
Zweck der Besserung. Tatsächlich kommt die Un- 
terbringung im Arbeitshaus auf eine Freiheits= 
strafe hinaus, die von den Betroffenen mehr ge- 
fürchtet wird, als Gefängnis= oder Zuchthausstrafe. 
II. Ueber die Mängel der geltenden Gesetzgebung 
besteht an keiner Stelle ein Zweisel. Man ist all- 
seitig darüber einverstanden, daß der wirklich Be- 
dürftige durch sie übermäßig hart getroffen wird 
und der arbeitsfähige Müßiggänger sehr leicht der 
Strafe zu entgehen weiß und daß, wenn er von ihr 
betroffen wird, sie, soweit sie auf § 361 beruht 
(Haftstrafe), eine ganz unzulängliche Strafe ist und 
soweit § 362 zur Anwendung kommt, eine Besse- 
rung selten erzielt wird. Vor allem aber setzt die 
strikte Anwendung dieser Strafbestimmungen das 
Vorhandensein einer wohlgeordneten, dem Be- 
dürftigen leicht zugänglichen und seinem Bedürf- 
nis ernsthaft gerecht werdenden A#pflege voraus. 
Nach dieser Richtung bestehen so erhebliche Män- 
gel, namentlich in kleineren Orten, vor allem auf 
dem Lande, daß diese Voraussetzung überaus häu- 
fig entfällt. Hiergegen kann selbstverständlich nur 
eine Besserung der öffentlichen APflege und die 
Beseitigung ihrer Mängel helfen, in erster Linie 
die Stärkung der Leistungsfähigkeit der kleineren 
Gemeinden (ausführlicher [Armenwesen 
§##l 6, 7). Vor allem zeigt sich der Mangel der gel- 
tenden, auch durch die Novelle von 1908 nicht ge- 
besserten Gesetzgebung darin, daß mechanisch alle 
kommunalen Körperschaften niederer Ordnung, 
also die Gemeinden und Gutsbezirke als Träger 
der örtlichen ALast völlig gleichgestellt sind, daß 
  
also das kleinste Dorf der Reichshauptstadt in Be- 
zug auf die Forderung gleichgestellt wird, jedem 
in seinem Bezirk auftauchenden Bedürftigen die 
seinem Bedürfnis angemessene Unterstützung zu 
gewähren. Diese durch § 28 UW den Ou## 
auferlegte Verpflichtung wird tatsächlich nicht nur 
nicht erfüllt, sondern kann auch nicht erfüllt wer- 
den, soweit es sich um wandernde Bedürftige hanu- 
delt. Ob eines Tages 1 oder 100 Wanderer unter 
dem berechtigten oder unberechtigten Vorgeben 
durch ein Dorf hindurchziehen, ohne Nahrung und 
Obdach zu sein, das Dorf müßte ihnen allen nach 
Maßgabe des von den zuständigen Organen (meist 
dem Gemeindevorsteher) erkannten Bedürfnisses 
Hilfe leisten, Nahrung und Obdach zur Verfügung 
stellen. Hier versagt § 28 vollständig. Soll er wirk- 
lich in Kraft gesetzt werden, so bedarf es anderer 
Mittel und Organisationen, deren Auffindung und 
praktische Nutzbarmachung den Gegenstand der 
neueren Bestrebungen auf diesem Gebiete bildet. 
Es handelt sich bei diesen Bestrebungen vor allem 
darum, der Wanderbettelei planmäßig ent- 
gegenzutreten, die von jeher und bis in die neueste 
Zeit den ernsten Charakter einer Massenerschei- 
nung angenommen hat. 
Die Ursachen der WBliegen nur zum Teil in der 
strafbaren Neigung einer Reihe von Menschen zum 
müßigen Umhertreiben; zum Teil hängen sie mit 
den modernen Produktionsverhältnissen zusam- 
men, die eine lebhafte Bewegung der arbeitenden 
Klassen hervorrufen, so die Anlegung neuer Ver- 
kehrswege, die die zeitweilige Ansammlung nicht 
dauernd an demselben Orte zu beschäftigender 
Arbeiter zur Folge haben, der zeitweise rapide 
Aufschwung von Handel und Industrie, dem nach 
einiger Zeit (wie z. B. 1907/08) ein sehr starker 
Niedergang gefolgt ist, die Umwandlung von 
Hand= in Maschinenarbeit, die sogen. Sachsen- 
gängerei u. a. m. Der beschäftigungslose Arbeiter, 
der genötigt ist, neue Arbeit zu suchen, gerät unter 
diesen Umständen auf die Landstraße, die er viel- 
fach als ein redlich Arbeit Suchender betritt, um 
allmählich gewahr zu werden, wie leicht Almosen 
von Fremden zu erhalten sind und wie das Wee- 
ben gewisse eigentümliche Reize birgt. So wird 
vielfach, namentlich unter der Wirkung des schlech- 
ten Beispieles alter unverbesserlicher Landfahrer, 
aus dem ehrlich Arbeit Suchenden ein Landstreicher. 
Befördert wird dies Wesen namentlich durch die 
mehr oder minder scharfe Handhabung der Land- 
straßenpolizei und durch die Praxis der Ortsbe- 
hörden, die, soweit sie nicht ganz untätig bleiben, 
den Wandernden durch ein kleines sog. Ortsge- 
schenk veranlassen, ihren Gemeindebezirk so schnell 
wie möglich zu verlassen. Daß die Schwankungen 
in der Zahl der Bettler und Landstreicher mit dem 
Auf und Nieder der wirtschaftlichen und gewerb- 
lichen Verhältnisse eng zusammenhängen, lehren 
die noch weiter unten mitzuteilenden Ziffern. 
Immerhin bleiben die Uebelstände der W auch 
in günstigen Zeiten so groß, daß man ihnen ernstlich 
entgegenzutreten bemüht sein muß. 
5#2. Neformen. I. Den ernsthaftesten Versuch 
der Besserung stellen diejenigen Bestrebungen 
dar, die den Gesichtspunkt „Arbeit statt 
Almosen“ in praktische Tat umzusetzen ver- 
suchen. Es gibt kein anderes Mittel, als den- 
jenigen, der als ein Unbekannter den durch 
Mangel an Arbeit verursachten Mangel an Unter- 
 
	        
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