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Elsaß-Lothringen
Bundesrat: keine Stimme; Reichstag: 15 Abg.
14 518 qkm, 1814 564 Einwohner (1910)
auf 1 qkm 125 Einwohner
Etat 73 167 316 Mk (1911)
A. Verfassungsentwichlung“)
1. Uebergangszustand. ## 2. Einführung der Rrichs-
verfassung. §# 3. Eigene Volksvertretung und Landesregie-
rung. 1 4. Rechtliche Natur des Reichslandes.
& 1. Der Nebergangszustand bis 1. Jannar
1874. E. ist eine gemeinsame Eroberung der
deutschen Staaten. Die staatsrechtliche Ordnung,
die es zunächst erhielt, war schon während des
französischen Krieges in ihren Grundlinien fest-
gelegt worden. Sobald die Besetzung des Landes
hinreichend vorgeschritten war, hatte der König
von Preußen, kraft des ihm zustehenden Ober-
befehls über die deutschen Truppen, das General-
Gouvernement Elsaß gebildet und einen General=
Gouverneur dafür bestellt. Mit Proklamation
v. 30. 8. 70 erklärte dieser „die kaiserlich franzö-
sische Staatsgewalt außer Wirksamkeit gesetzt und
die Autorität der deutschen Mächte an deren
Stelle getreten"“; er werde, „dem erhabenen
Willen der deutschen Mächte entsprechend“, ge-
ordnete Zustände herbeizuführen bestrebt sein. —
An der damit beginnenden regelmäßigen Ver-
waltung des Landes und der Art ihrer Einrichtung
wurde durch die große Tatsache, daß mit dem
1. 1. 71 das Deutsche Reich ins Leben trat, nichts
geändert, und ebenso wenig durch die Abtretung
des Landes im Vorfrieden v. 26. 2. 71, wirksam
durch den Austausch der Bestätigungsurkunden
v. 2. 3. 71. Denn das Reich, das es weiter ver-
walten ließ und zu vollem Rechte erwarb, war
niemand anders als die bisherigen gemeinsamen
Herrn, nur jetzt zu festerer, dauernder Ordnung
zusammengeschlossen.
Nach dem endgültigen Friedensschlusse
Frankfurter Friedens Vi v. 10. 5. 71 — erging
das R v. 9. 6. 71, betr. die Vereinigung E. mit
dem Deutschen Reiche. Auch dies bedentet keine
neue Entwicklungsstufe für die äußerliche Gestalt
der Verfassung des Landes. Wenn §& 3 des Gbe-
stimmt, daß die oberste Gewalt in E. der Kaiser
ausübe, so hatte er das bisher schon getan, zuerst
kraft seines Oberbefehls und nachher kraft seiner
Präsidialrechte als Vorstand der verbündeten
Regierungen. Eine Fortbildung der Verfassung
ist nur an einem einzigen Punkte erkennbar, den
5 3 Abl2 hervorhebt. Nicht wesentlich freilich ist
die dort getroffene Bestimmung, daß die Auf-
nahme von Anleihen oder Uebernahme von Ga-
rantien für E., „durch welche eine Belastung des
Reichs herbeigeführt wird“, der Zustimmung des
Bundesrats und Reichstags bedarf: das würde
sich wohl schon aus RV a 69 ergeben. Aber der
53 Abs2 bestimmt auch, daß der Kaiser bei Aus-
6% Eine Reform der Verfassung ist in Vorbereitung.
Unter dem 17. Dezember 1910 ist dem Reichstage (Druck-
sache Nr. 581) der Eutwurf eines Verfassungsgesetzes und
eines Wahlgesetzes für Elsaß-Lothringen zugegangen. Ueber
das Ergebnis soll am Schlusse dieses Bandes oder des
Werkes berichtet werden. IZusatz nach Abschluß des Drucks.]
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übung der Gesetzgebung für E. fortan an die Zu-
stimmung des Bundesrats gebunden sein soll.
Damit wahren sich jetzt die Bundesgenossen doch
wieder einen gewissen Machteinfluß auf die Ver-
waltung des gemeinsamen Besitztums.
5 2. Die Einführung der Reichsverfassung.
Das Vereinigungsgesetz hatte diesen Einrichtun-
gen sofort die Bedeutung eines bloßen Ueber-
gangszustandes aufgeprägt, indem es in 5& 2 be-
stimmte: „Die Verfassung des Deutschen Reichs
tritt in E. am 1. 1. 73 in Wirksamkeit.“ Nach-
träglich wurde durch Gv. 20. 6. 72 dieser Termin
auf 1. 1. 74 verschoben. Das G v. 25. 6. 73 regelte
dann das Nähere. Auch diese Einführung der
Reichsverfassung war nicht als eine endgültige
Ordnung gemeint. Denn schon die Motive des
Vereinigungsgesetzes selbst hatten das Wider-
spruchsvolle der Maßregel klar hervorgehoben.
„Das Deutsche Reich, sagten sic, ist seinem Grund-
charakter nach ein Bund selbständiger souveräner
Staaten, welche einen durch die Reichsverfassung
begrenzten Teil ihrer Staatshoheitsrechte an die
gemeinsamen Organe .. abgegeben, im übrigen
aber ihre staatliche Selbständigkeit bewahrt haben.
.. Das von Frankreich abgetretene Gebiet ist
nicht bestimmt, einen mit eigner Staatshoheit
bekleideten Bundesstaat zu bilden.“ Wenn gleich-
wohl die Reichsverfassung in dem Nicht-Bundes-
staate E. eingeführt werden sollte, so konnte das
nichts anderes bedeuten als eine Art von vor-
läufiger Gleichbehandlungmit einem
solchen Staate — auch diese nur durchführbar,
soweit ein gesondertes rechtliches Dasein sich ver-
trug mit der festgehaltenen Eigenschaft des Landes
als eines gemeinsamen Besitzes der wirklichen
Bundesgenossen.
Es wurde deshalb zwar die reichsverfassungs-
mäßige Grundausscheidung von Staatsgewalt
und Reichsgewalt mit ihren entsprechenden Macht-
kreisen auch für E. maßgebend. Aber an der
Reichsge walt, als der Gewalt des Bundes
seiner Besitzer, konnte E. selbstverständlich keinen
Anteil haben: Sitz und Stimme im Bundesrat
blieben ihm versagt; die Teilnahme der Bevölke-
rung an den Reichstagswahlen war dagegen mit
der gemeinsamen Untertanenschaft wohl verein-
bar. Außerdem hat der Umstand, daß E. nicht
wie die Bundesstaaten Hoheitsrechte dem Reiche
abzutreten hatte, sondern umgekehrt nur besitzt,
was ihm das Reich herausgab, ganz von selbst
Verschiebungen der Grenzlinie zugunsten des
Reichs herbeigeführt. Alle Postbeamten z. B.
werden hier von Reichs wegen ernannt. Das
Reich besitzt und verwaltet nicht nur die Reichs-
eisenbahnen ), sondern übt auch die darauf bezüg-
lichen Hoheitsrechte unmittelbar aus, wie z. B.
Wegeverlegung und Enteignungsanordnung. We-
der auswärtige Verwaltung noch Militärverwal-
tung gab es je für dieses Land; es hat keine Kon-
tingentsherrlichkeit, ohne sie jemals abgetreten zu
haben, und seine Angehörigen schulden die Heer-
dienstpflicht dem Reiche unmittelbar. — Andrer-
seits wurde nun zwar für die verbleibenden An-
gelegenheiten eine rechtlich unterschiedene
Staatsgewalt in Elsaß-Lothrin-
gen anerkannt und geordnet. Aber das Reich,
—
1) Nach dem Verfassungsentwurf von 1910 soll sich
hierin nichts ändern.