Enteignung (A. Reichsgebiet)
719
auch für den Bau von Landstraßen, für Festungs-
bauten usw. sind E. in großem Umfange vorge-
nommen worden. Diese Verhältnisse haben zu
einer eingehenden gesetzlichen Regelung des ER
geführt, zuerst in Frankreich. Dem französischen
Vorbilde sind auch fast alle deutschen Staaten
gefolgt. Sie haben durch besondere Gesctze eine
Regelung der Voraussetzungen, Formen und Wir-
kungen der E. vorgenommen (s. die einzelnen
Gesetze am Schlusse unter „Quellen“).
6 3. Die rechtliche Natur der Enteignung.
a) Zwangskauftheorie: Die E. ist er-
zwungener Verkauf; sie enthält äußerlich alle
wesentlichen Merkmale des Kaufs, Ucberlassung
einer Sache gegen einen bestimmten Preis, der
zum Kaufe notwendige Konsens der Beteiligten
wird durch das Gesetz suppliert (heute noch für
das preußische Ert: Eger). Die Thoeoric ist zuerst
mit durchschlagendem Erfolge widerlegt worden
von Laband, dann auch von Georg Moyer. Sie
kann heute, nachdem das Reichsgericht auch für
das preuß. Recht dagegen Stellung genommen
hat (Entsch 61, 102 ff), als überwunden gelten. —
bv) Die E. ist zweiseitiges obligato-
risches Rechtsverhältnis, aber nicht
Vertrag, sondern obligatio quasi er
contract u nach dem Typus des Kaufs, er-
zeugt durch den Zustand, daß Jemand Eigentü-
mer einer zum öffentlichen U benötigten Sache ist.
Diese Auffassung von G. Meyer (1868), der im
Grunde dieselben Bedenken entgegenstanden wie
der Kauftheorie, hat keine Anhänger gesunden,
sic ist auch später von Moyer selbst wieder auf-
gegeben worden. — c) Die öffentlich-
rechtliche Auffassung: Die E. ist ein-
seitiger Staatsakt und erzeugt als solcher
kraft Gesetzes (Laband, Grünhut, v. Rohland)
oder richtiger vermöge des auf Grund des Gesetzes
ergehenden Ausspruches der zustän-
digen Behörde — Verwaltungsakt
— (Schelcher, O. Mayer) die ihrem Zwecke ent-
sprechenden Wirkungen. Diese Auffassung wurde
zuerst vertreten von Zachariä, Thiel, Burkhardt,
später auch von Stobbe, Gleim, Präzäk, Nanda,
Henle, Sieber, Gengler, Layer. Dabei bestehen
aber Unterschiede hinsichtlich der Auffassung der
dinglichen Wirkung (Eigt Veränderung) und
der obligatorischen Wirkung (Entschädi-
gungsverpflichtung), von denen die letztere früher
noch als privatrechtlich hingestellt wurde (Laband,
Wach). Die richtige Auffassung’ geht wohl dahin,
daß E. und Entschädigung als begrifflichszu-
sammengehöriges Ganzes zu betrach-
ten sind und demgemäß in allenihren Wirkun-
gen dem öffentlichen Rechte angehören
(v. Stein, Grünhut, Gengler, O. Mayer, Layer,
Schelcher).
&4.Feststellung des Enteignungsfalles (Vor-
aussetzungen der Enteignung, Verleihung des
Enteignungsrechtes). Das Recht, E. vorzuneh-
men, steht in Deutschland nicht nur den Einzel-
staaten, sondern auch dem Reiche zu. Für einen
Fall ist das ER des Reiches in der Verfassung
ausdrücklich vorgesehen, für den Bau von Eisen-
bahnen (RV a 41). Die Durchführung der
E. erfolgt in diesen Fällen nach dem einschlagen-
den Landesrechte. Bedarf das Reich in anderen
Fällen der E. zur Verwirklichung seiner Zwecke,
Staate angewiesen. — Die materiellen
Voraussetzungen der E. sind a) ein die
E. rechtfertigendes Unternehmen,
b) die Notwendigkeit der E. zu dessen
Durchführung.
a) Die entsprechende Eigenschaft des U
wird entweder vorher in jedem einzelnen Falle
festgestellt oder durch eine allgemeine Formel
bezeichnet. Preußen spricht allgemein von
der Entziehung oder Beschränkung des Grund-
eigentums „für ein U aus Gründen des
öffentlichen Wohles“, Hessen und Baden:
„für ein zum öffentlichen Nutzen dienendes Un-
ternehmen", Württemberg: „für ein U zu
allgemeinen Staats= oder Korporationszwecken"“,
Oldenburg: „für eine Anlage aus Rücksich-
ten des gemeinen Besten“", Sachsen: „für ein
dem öffentlichen Nutzen gewidmetes Unterneh-
men“. In Wahrheit ist es das „öffentliche In-
teresse“, worauf alle die verschiedenen Bezeich-
nungen des E.Grundes hinauslaufen. Das aber,
was jeweilig im öffentlichen Interesse liegt oder
dem gemeinen Wohle, dem allgemeinen Besten,
dem öffentlichen Nutzen, einem öffentlichen Zwecke
dient, kann nur unter Berücksichtigung der einem
sortwährenden Wechsel unterliegenden Bedürf-
nisse des Staates und der Gesamtheit seiner Unter-
tanen nach dem objektiven, aber freien Ermessen
eines staatlichen Organes bestimmt werden, wel-
ches die maßgebenden Verhältnisse ausreichend zu
übersehen im Stande und seiner verfassungsmäßi-
gen Stellung nach berufen ist, ebenso die allge-
meinen Staatszwecke zu verwirklichen, wie das
hierbei belceiligte Einzelinteresse vor Uebergriffen
der Verwaltung zu schützen. Gewisse Einschrän-
kungen, dice eine Grenze für diese Ermessensfrei-
heit bilden können und müssen, sind aber schon
begriffsmäßig gegeben. Hiernach braucht zwar
das U, zu dessen Durchführung die E. angewendet
werden soll, kein absolut notwendiges zu sein, es
muß aber stets ein gemeinnützliches sein. Daher
vermögen bloße finanzielle Vorteile der Staats-
kasse oder einer öffentlichen Korporation die E.
ebensowenig zu rechtfertigen, wie bloße Rücksich-
ten auf Annehmlichkeiten für einen größeren Kreis
von Staatsbürgern (also z. B. nicht bloße Ver-
schöncrungszwecke). Aus demselben Gesichts-
punkte wird eine E. auch nicht für ein U
stattfinden dürfen, welches für sich selbst be-
trachtet nur Privatzwecken dient, wenn auch
die Förderung von Anlagen der betreffenden Art
sonst im Interesse der Hebung eines bestimmten
Erwerbszweiges, der Industrie, der Landwirt-
schaft usw., im allgemeinen mit zu den Staats-
zwecken gerechnet werden kann. Andererseits
wird aber die E. nicht schon dann ausgeschlossen
sein, wenn ein gemeinnützliches Unternehmen,
z. B. eine Eisenbahnanlagce, lediglich durch private
Interessen einer öffentlichen Korporation oder
auch einer privaten Gesellschaft oder einer Einzel-
person ins Leben gerusen worden und zunächst
solchen zu dienen bestimmt ist; vielmehr wird es
in einem solchen Falle zur Rechtfertigung der E.
genügen, wenn dabei zugleich einem Bedürf-
nisse der Allgemeinheit entsprochen oder ein
öffentlicher Nutzen erzeugt wird.
b) Die andere Voraussetzung der E. ist ihre
Notwen digkeit im gegebenen Falle. Diese
so ist es auf Verleihung des ER vom einzelnen! Notwendigkeit ist nicht Unentbehrlichkeit eines be-