Hessen — Elsaß-Lothringen 97
1. Das Ortsbürgerrecht soll nicht mehr mit dem poli-
tischen Wahlrecht zur Gem verbunden sein. Es soll nur noch
die Boraussetzung für die wirtschaftliche Nutzungs Gem (Orts-
bürgernutzungen) bilden. Auch soll die gänzliche Ablösung
dieses Rechtes zulässig sein.
2. Bei den Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung
wird eine Milderung der derzeitigen Boraussetzungen, auch
die Möglichkeit der Einführung von Verhältniswahlen er-
strebt. Das Wahlverfahren soll im Anschluß an die Stimmen-
abgabe des Reichstagswahlrechts (abgesonderter Raum, Um-
schlag des Stimmzettels) gestaltet werden.
3. Eine Berringerung der kreisamtlichen Aufsicht und
Stärkung der Selbstverwaltung und die Durchbildung der
Finanzen mit Verstärkung der Autonomie.
4. Im Gebiete der Landgemeindeordnung wird eine Er-
weiterung des Ortsbürgerrechtes, die Stärkung der dienst-
lichen Stellung des Bürgermeisters (Amtshonorare, Pau-
schalvergütung), die Anstellung des Ratsschreibers als Gem-
Beamter, die Sicherung der Stellung der Gem Beamten
im allgemeinen und der öffentliche Charakter der Sitzungen
des Gemeinderats als Regel erstrebt.
Die Berabschiedung der Resorm ist nunmehr (im Mai
1911) durch übereinstimmende Beschlüsse der Kammern des
Landtags gesichert.
DOuellen: 06, betr. die StO f. d. Großherzogtum
Hessen, v. 13. 6. 74; G, betr. die 260 f. d. Großherzog=
tum Hessen v. 15. 6. 74; Kammerverhandlungen über die
Reform der Verw Gesetzgebung: a) II. Kammer der Stände,
XIXIV. Landtag, 1908/11, Drucksachen Nr. 189, 201,
401, 464, 465, 515, 558, 587, 588, 589, 590, 617, Pro-
tokolle über die 72., 73., 74., 75., 77., 78., 79., 80., 81., 103.
Sitzung; b) I. Kammer der Stände, XXXIV. Landtag,
1908/11, Beilagen Nr. 109, 110, 111, 134, 135, 136, 137,
Brotokolle über die 19., 20., 21. Sitzung.
Literatur: Küchler, Verfassungs= und Ver-
waltungsrecht d. Großh. Hessen" II, 1894 S 109, 300;
Nachtragsband 1896 S 17. Slässing.
G. Elsatz-Kothringen
1. Allgemeines. 1 2. Der Gemeindevorstand. 3. Ge-
meindebeamte. # 4. Der Gemeinderat. 1 5. Staatsaufsicht.
#5 1. Allgemeines. Auf die Organisation der
örtlichen Verwaltung ist die große französische
Revolution von nachhaltiger Wirkung gewesen.
Nachdem der Versuch des Gv. 14. und 22. 12.
1789, das in jeder „ville, bourg, paroisse ou
communauté de campagne“ eine „municipa-
lit““ schuf, mißglückt war, legte das G v. 28.
Pluviöse VIII (Titel II a 13) die Grundlage,
auf der noch heute das elsaß-lothringische Ge-
meinderecht beruht, dessen weitere Ausgestaltung
durch die Gv. 18. 7. 37 und 5. 5. 55 vorgenom-
men wurde. Als im Laufe der Zeiten diese Be-
stimmungen durch den Wechsel der Gesetzgebung,
vor allem unter dem Einfluß des deutschen Rech-
tes wenig übersichtlich und stellenweise recht ver-
altet geworden waren, entschloß sich die elsaß-
lothringische Regierung, den Entwurf ciner
Gemeindeordnung den gesetzgebenden
Körperschaften vorzulegen, der am 6. Juli 1895
(GBl 58) die Kaiserliche Sanktion erhielt. Die
„Gemeindeordnung für Elsaß-Lothringen“ ist am
1. 4. 96 in Kraft getreten. Zu ihrer Ausführung
v. Stengel. Fleischmann, Wörterbuch 2. Aufl.
ist die umfangreiche Ministerial V v. 25. 3. 96
(Zentral- und BezirksènBl 45) erschienen.
Die Gem ist ein korporativ organisierter Ver-
band mit eigener Verfassung. Als solcher ist sie
eine juristische Person des öffentlichen Rechtes;
einer besonderen Anerkennung ihrer juristischen
Persönlichkeit bedurfte es nicht, da auch die frühere
Gesetzgebung als feststehend annimmt, daß die
Gem sie besitzt. Die Errichtung neuer Gem
erfolgt durch Kaiserliche, vom Statthalter zu voll-
ziehende Verordnung; auf demselben Wege ge-
schieht ihre Benennung und die Vereinigung meh-
rerer Gemeinden zu einer Gem (5§ 2). Die Gem
ist ferner eine Gebietskörperschaft. Ihr Substrat
bildet ein bestimmter Kreis von Personen (Gem-
Bürger), die in einem durch das Gesetz geschaffenen
Zugehörigkeitsverhältnis zu einem bestimmten
Gebiet (Gem Bezirk) stehen. Gemeinde-
bürger sind alle Reichsangehörigen, welche in
der Gem ihren Wohnsitz haben. Keine Gem Bür-
ger sind die Reichsausländer (habitants), wenn
sie auch die Gem Einrichtungen und Gem Anstalten
benutzen dürfen. Die Gem Zugehörigkeit ist un-
abhängig von der Aufnahme in den elsaß-lothringi-
schen Landesverband. Das Gem Bürgerrecht ent-
steht kraft Gesetzes durch Begründung des Wohn-
sitzes in einer Gemeinde. Der Besitz politischer
und Nutzungsrechte ist von einem besonders ge-
arteten Wohnsitz abhängig. Ehrenbürger kennt
die Gem Ordnung nicht. Die Gem Bezirke bilden
geographisch geschlossene Ganze; Enklaven gibt es
nicht. Jeder Teil des Reichslandes ist zugleich
auch Teil eines Gem Gebietes; Grundstücke, die
zu keinem Gem Bezirk gehören, sind nicht vorhan-
den. Die Abänderung des GemBezirks,
sofern sie nicht die Errichtung neuer oder die Auf-
lösung bestehender Gem zur Folge hat, erfolgt
durch den Bezirkspräsidenten, wenn die Ge-
meinderäte der beteiligten Gem einverstanden
sind und die Gem zu demselben Bezirk gehören,
andernfalls durch das Ministerium (§5 2). Uner-
hebliche Verlegungen der Gem Grenzen können
von dem Ministerium gelegentlich der Kataster-
bereinigung vorgenommen werden. Die Gem
ist endlich ein Selbstverwaltungskörper.
Alle Gem des Landes zerfallen in große
und kleine. Große Gem sind von Gesetzes
wegen Gem von 25 000 und mehr Einwohnern
(F 1). Große Gem können werden: die Kreis-
hauptorte, deren Gemeinderat die Annahme der
für die großen Gem erlassenen Bestimmungen be-
schließt (§ 1 Nr. 1) und alle Gem, denen auf An-
trag ihrer Gemeinderäte nach Anhörung des Be-
zirkstags durch Kaiserliche Verordnung die An-
nahme der für die großen Gem erlassenen Be-
stimmungen gestattet wird (§ 1 Nr. 2). Kleine
Gem sind alle übrigen Gem. Der Unterschied
zwischen den beiden Gruppen ist nicht so erheblich
wie in anderen Rechtssystemen. Abgesehen von
der Verschiedenheit in der Aufsichtsinstanz be-
stehen geringe Abweichungen in der Gen Ver-
fassung. Auf dem Gebiete der Gem Verwaltung
ist als wichtigster Unterschied hervorzuheben, daß
in kleinen Gem die Gemeinderäte bei besonders
weittragenden Angelegenheiten durch die Höchst-
besteuerten verstärkt werden. ç
s 2. Der Gemeindevorstand. An der Spitze
der Gem Verwaltung stehen der Gemeinde-
vorstand, das ist der Bürgermeister und die
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