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Gewerbe (Gewerbevereine)
die Zünfte bis zum Anfange des 19. Jahrhunderts
das Gewerbewesen beherrscht hatten, trat zu die-
sem Zeitpunkt in den von der Napoleonischen Ge-
setzgebung beherrschten Gebieten mit dem Weg-
falle der Zünfte eine fühlbare Lücke ein, die sich,
wenn auch in vermindertem Umfange in den Ge-
bietsteilen der preußischen Monarchie bemerkbar
machte, wo das Ed. v. 2. 11. 1810 und das Gv.
7. 11. 1811 die gewerblichen Vorrechte der Zünfte
beseitigt hatte. Das Bedürfnis nach einem neuen
Zusammenschlusse trat um so lebhafter hervor,
als der Vergleich mit den Landesteilen, in welchen
die alte Zunftverfassung am Leben geblieben
war, das verlorenc um so schmerzlicher vermissen
ließ. Waren im nördlichen Deutschland die Ziele
darauf gerichtet, das alte Innungswesen wieder
neu zu beleben, so suchte man in Süddeutschland
durch freiwilligen Zusammenschluß der Gewerbs-
genossen die Lücke auszufüllen und mit Hilfe von
freien Vereinen der Gewerbetreibenden die He-
bung des Gewerbes herbeizuführen.
So entstanden die G. als freie Vereinigungen
der Gewerbetreibenden, welche ihre hauptsäch-
liche Aufgabe in der technischen und gewerblichen
Ausbildung ihrer Mitglieder erblickten und das
Standesbewußtsein und das Zusammengehörig-
keitsgefühl ihrer Mitglieder zu heben trachteten.
Sie waren und sind auch heute nicht etwa Fach-
vereine wie die Innungen und konnten infolge-
dessen auch an kleineren Orten, wo lebensfähige
Fachvercinigungen mit Rücksicht auf die geringe
Zahl der Fachkollegen ausgceschlossen waren, eine
erfolgreiche Tätigkeit zur Förderung des Klein-
gewerbes entwickeln. Doch haben sec sich nicht
etwa lediglich auf das Kleingewerbe beschränkt,
auch die Großindustrie hat sich ihrer zu ihrer
Organisation bedient und ist, namentlich in Nord-
deutschland, in ihnen auch heute noch zahlreich
vertreten.
Die Ausbildung ihrer Mitglieder suchen sie
durch Förderung des gewerblichen Unterrichts,
Einführung des Lehrlings= und Fortbildungs-
unterrichts, Einrichtung von Bibliotheken und
Lesezimmern für ihre Mitglieder, durch Vor-
träge, Veranstaltung von Ausstellungen, insbes.
für Lehrlingsarbeiten, Preisarbeiten und Ge-
werbezeitschriften zu fördern. Der Hebung des
Standesbewußtseins dient die Erteilung von Aus-
künften und Ratschlägen an die Gewerbsgenossen,
die Einrichtung von Arbeitsnachweisen und die
Unterstützung sonstiger gemeinnütziger Einrich-
tungen. In ihren Bestrebungen werden sie durch
staatliche und kommunale Beoihilfen vielfach unter-
tützt.
1 Im Jahre 1892 haben sich die sämtlichen G.
Deutschlands zu einem Verbande deut-
scher Gewerbevereine zusammenge-
schlossen, welcher die Wahrnehmung ihrer ge-
meinsamen Interessen und gegenseitige Förde-
rung ihrer Aufgaben zum Zwecke hat, und dem
die große Mehrheit aller deutschen G. sowie
Landcsverbände von G. angehören. Im Laufe
der Jahre wechselte er mit Rücksicht auf den Bei-
des badischen Landesverbandes und durch Aus-
tritt des Gewerblichen Zentralvereins der Pro-
vinz Ostpreußen eine Minderung eingetreten, so
daß nach dem Bestande von 1910 nur 1406
Vereine mit 143 430 Mitgliedern, darunter
93235 Handwerkern (6500) vorhanden sind.
2. So haben sich die G. auch unter den Hand-
werkern ein hohes Ansehen erworben, und zwar
bemerkenswerter Weise in langem Kampfe mit
den Innungen, der namentlich in Norddeutsch-
land mit seinem stark entwickelten Innungswesen
eine lebhafte Gestalt annahm und für die G.
insofern eine gefährliche Wendung zu nehmen
drohte, als die Gesetzgebung die Organisation
auf zünftlerischer Grundlage in zunehmendem
Maße unterstützte und förderte. Der Nachdruck
aber, den sie sich durch den Zusammenschluß zu
dem Verbande zu verschaffen wußten, half ihnen.
insofern zum Siege, als sie sich in der sog. Hand-
werkernovelle v. 26. 7. 97 die volle Gleichberech--
tigung neben den Innungen sicherten. In dieser
Novelle werden sie vom Gesetzgeber als gleich-
berechtigte Vertreter des Handwerks anerkannt
und als Wahlkörper für die Hand-
werkskammer“#] zugelassen (§ 103a GewO).
Nur wurde dieses Recht an die Voraussetzung ge-
knüpft, daß sie mindestens zur Hälfte ihrer Mit-
glieder aus Handwerkern bestehen und daß sie
die gewerblichen Interessen des Handwerks ver-
olgen.
Diese Bedingung erschien durchaus gerechtfer-
tigt; denn die G. sind in der Auswahl ihrer Mit-
glieder nicht etwa lediglich auf Handwerker oder
auch nur aus Gewerbetreibende beschränkt, sie
zählen vielfach Ingenieurc, Baumcister, gewerb-
liche Lehrer und sonstige Freunde und Förderer
des Kleingewerbes, die durch ihre Erfahrung und
Kenntnisse sich den Vereinszwecken besonders
nützlich erweisen, zu Mitgliedern, und dies in
um so höherem Prozentsatze, wenn sic aus Vereins-
bildungen hervorgegangen sind, die ursprünglich
noch anderen Zwecken dieaten, wie z. B. wenn der
Verein aus einem Handels= und G. oder aus
einem Kunst= und G. entstanden ist. Solche Ver-
eine möchten nicht gern ihren bisherigen Charak-
ter ausgeben und streben danach, ihren dem Hand-
werk angehörenden Mitgliedern die Rechte zu
sichern, die ihnen durch die Handwerkernovelle
gewährleistet werden. Der Verband erstrebt des-
halb ein Wahlrecht für alle Handwerker, dic einem
die Handwerkerinteressen fördernden G. angehö-
ren. Solange dieser Wunsch von dem Gesetzgeber
aber nicht erfüllt wird, haben die G. das Interesse,
ihre Einrichtungen den Anforderungen des Ge-
setzes entsprechend zu treffen. Ist somit in den
meisten Vereinen auch fernerhin die Mitglico-
schaft von Nichthandwerkern gestattet, welche mit
ihrer Erfahrung und Intelligenz sich den In-
teressen des Handwerks nützlich erweisen, so ist doch
das Bestreben darauf gerichtet, daß dic Mehrzahl
der Mitglieder dem Handwerkerstand angehört.
Von diesem ausschlaggebenden Gesichtspunkte
werden insbesondere die Fachgruppen geleitet,
tritt zahlreicher reiner Handwerkervereine seinen die sich innerhalb einzelner G. im Interesse des
Namen und umfaßt jetzt unter der Firma „Ver-
band deutscher Gewerbevereine und Handwerker-
vereinigungen“ (nach der Zählung vom Jahre
1909) 1449 Vereinc und 152 770 Mitglieder. Im
Jahre 1910 ist allerdings durch eine Umgestaltung
Fachhandwerks bilden; dann aber entstanden und
bilden sich weiter auch zahlreiche Neuorganisatio-
nen, die grundsätzlich nur Handwerker aufnehmen
und dies auch äußerlich schon durch die Annahme
des Namens Handwerkerverein bekun-