Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Zweiter Band. G bis N. (2)

  
  
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wie als staatliche Gemeinschaft zur Erzeugung 
von GewR ganz besonders geeignet. Aber wie der 
Staat nicht als der alleinige Schöpfer des gesetzten 
Rechts angesehen werden darf, sondern auch den 
übrigen mit einem Gesamtwillen und einer ent- 
sprechenden Organisation ausgestatteten Verbän- 
den naturgemäß die Fähigkeit bewußter Rechts- 
bildung zukommt, so können außer dem Volke 
auch die übrigen menschlichen Verbände inner- 
halb ihres persönlichen und sachlichen Bereichs 
Gew hervorbringen. Dies gilt sowohl von den 
über den einzelnen Staat bezw. die einzelne Na- 
tion hinausgehenden menschlichen Verbänden, 
insbesondere der katholischen Kirche und der 
V.ölkerrechtsgemeinschaft, als auch 
von den innerhalb der einzelnen Staaten be- 
stehenden persönlichen oder territorialen Verbän- 
den. Die für einen engen Kreis von Menschen 
geltenden, speziellen oder lokalen, Gew werden. 
vorzugsweise als Observanzen bezeichnet; 
unbestimmter ist der Ausdruck Herkommen, 
der besonders auch für eine nur auf subjektive 
Rechte bezügliche Uebung gebraucht wird. Zwi- 
schen einzelnen Rechtssubjekten als solchen aber 
kann sich für ihre gegenseitigen rechtlichen Bezie- 
hungen kein Gewl bilden (O G8, 231; 12, 275). 
2. Die rechtliche Ueberzeugung. 
a) Vielfach liegt schon der Bildung menschlicher 
Verbände eine gemeinsame Denkweise der Mit- 
glieder zu Grunde. Allgemein aber entstehen na- 
turgemäß unter den Mitgliedern eines Verbandes 
gemeinsame Ansichten bezw. Ueberzeugungen 
über die gegenseitigen äußeren Beziehungen und, 
wenn diese sich für eine rechtliche Normierung 
eignen, insbesondere auch über eine solche. Frei- 
lich werden nicht alle Mitglicder ohne Ausnahme 
dieselbe Anschauung teilen oder in gleicher Stärke 
haben; wir dürfen und müssen aber dicjenige An- 
schauung, die im Kreise der Mitglieder nach Ver- 
breitung und Stärke ganz entschieden überwiegt, 
als einen Ausfluß der Gemeinschaft 
ansehen. 
b) Zur Bildung eincs Gewf genühgt jedoch nicht 
die Ueberzeugung der Mitglieder des Verbandes, 
daß für ihre gegenseitigen Beziehungen ein be- 
stimmter Rechtssatz gerecht oder zweck- 
mäßig sei; darin würde zunächst nur ein Motiv 
zu einer bewußten Rechtsbildung dieses Inhalts 
iegen. Die Ueberzeugung muß vielmehr dahin 
gehen, daß der betreffende Satz bereits recht- 
liche Geltung für die Mitglieder habe, 
ein Teil der Rechtsordnung des Verbandes sei 
(opinio iuris s. necessitatis in diesem Sinn). 
Eine solche Ueberzeugung wird sich vielfach un- 
willkürlich unter der Einwirkung der Anschauung 
von der Vernunftgemäßheit des Satzes bilden; 
es können dafür aber auch andere Momente, vor 
allem der Glaube, daß eine gesetzliche Bestim- 
mung dieses Inhalts bestehe, mehr oder weniger 
maßgebend sein (vgl. unten 4c). 
3. Die rechtliche Uebung. Die ge- 
meinsame rechtliche Ueberzeugung muß, um 
rechtsbildend zu wirken, äußerlich erkennbar sein. 
Hiefür ist die praktische Befolgung des in der 
Ueberzeugung enthaltenen Rechtssatzes nicht allei- 
niges, aber vorzugsweise geeignete: und wichtiges 
Mittel. Die rechtliche Uebung hat jedoch noch 
eine andere und für die GewRBildung unent- 
behrliche Bedeutung. Sie ist notwendige 
Gewohnheitsrecht 
  
Erscheinungsform jedes Gewm, weil 
nur sie imstande ist, die erforderliche Festigkeit 
und Stärke der Ueberzeugung sowie die vermut- 
liche Uebereinstimmung ihres Inhalts mit den 
wirklichen Bedürfnissen der Gemeinschaft zu be- 
kunden. Häufig wird zudem erst die wiederholte 
praktische Anwendung des Rechtssatzes der Ueber- 
zeugung von seinem Bestehen die erforderliche 
Stärke und Verbreitung verschaffen. Damit aber 
die Uebung diese Wirkungen habe, braucht sie 
nicht eine Gewohnheit in dem Sinne einer 
während längerer Zeit in einer größeren Zahl 
von Fällen gleichmäßig beobachteten Handlungs- 
weise zu sein; durch die rasche Auseinundersoßge 
zahlreicher Uebungsfälle kann die längere Uebungs- 
zeit überflüssig werden, und durch ihre besondere 
Beschaffenheit können selbst wenige Fälle in ver- 
hältnismäßig kurzer Zeit das Bestehen einer 
festen und starken gemeinsamen Rechtsüberzeu- 
gung dartun. 
Dagegen ist auch ein lange Zeit gleichmäßig im 
Rechtsleben geübtes Verhalten der Mitglieder 
einer Gemeinschaft ohne entsprechende rechtliche 
Ueberzeugung nicht imstande, objektives Recht zu 
erzeugen. Einem solchen in rechtlichen Be- 
ziehungen befolgten Gebrauch (Geschäfts- 
gebrauch, Verkehrssitte) kommt aller- 
dings auch eine erhebliche rechtliche Bedeutung 
zu, aber von einem Gew ist er spezifisch ver- 
schieden. 
4. Weitere begriffsmäßige Er- 
fordernisse eines gültigen Gewgbestehen 
nicht. Insbesondere bedarf das GewR für seine 
Geltung keiner staatlichen Anerkennung und ist 
weder Unvernünftigkeit des Inhalts noch Irrtum 
der Uebenden ein Hindernis für das Dasein eines 
gültigen Gewohnheitsrechts. 
a) Die in der gemeinrechtlichen Theorie lange 
Zeit herrschende, auch jetzt noch von hervorra- 
genden Schriftstellern (wie Binding, Seydel, 
O. Mayer) vertretene Anschauung, daß ein GewK 
nur mit (allgemeiner oder besonderer, ausdrück- 
licher oder stillschweigender) Anerkennung 
bezw. Gestattung der Staatsgewalt bestehen 
könne, entbehrt der Begründung, wenn man 
nicht den Staatswillen als einzige Quelle des 
Rechts betrachtet, und widerspricht jedenfalls dem 
geschichtlichen Verhältnis zwischen GewR und 
Gesetz. Der äußere Grund für die bindende Kraft 
der Sätze des GewfN liegt vielmehr in der Rechts- 
quelle selbst, in der Art der Entstehung 
dieser Rechtssätze. 
b) Der innere Grund für die Verbindlichkeit 
von Gew i ist, wie für die Verbindlichkeit des ob- 
jektiven Rechts überhaupt, die durch die Art der 
Entstehung gegebene überwiegende Wahrschein- 
lichkeit, daß die so entstandenen Rechtssätze den 
vernünftigen Bedürfnissenderihnen 
unterworfenen Personen entsprechen. Diese so 
begründete Vermutung der realen (geschichtlichen) 
Vernunftgemäßbeit des objektiven Rechts schließt 
ein Abhängigmachen der Geltung der einzelnen 
Rechtssätze von einer Prüfung der Ver- 
nunftgemäßheit ihres Inhalts 
aus. Dagegen liegt es allerdings im Wesen des 
Rechts überhaupt, daß eine Norm keine rechtliche 
Geltung haben kann, wenn sie einem höheren un- 
nachgiebigen Rechtssatz derselben Gemeinschaft 
oder einem die Mitglieder dieser Gemeinschaft un-
	        
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