288
wie als staatliche Gemeinschaft zur Erzeugung
von GewR ganz besonders geeignet. Aber wie der
Staat nicht als der alleinige Schöpfer des gesetzten
Rechts angesehen werden darf, sondern auch den
übrigen mit einem Gesamtwillen und einer ent-
sprechenden Organisation ausgestatteten Verbän-
den naturgemäß die Fähigkeit bewußter Rechts-
bildung zukommt, so können außer dem Volke
auch die übrigen menschlichen Verbände inner-
halb ihres persönlichen und sachlichen Bereichs
Gew hervorbringen. Dies gilt sowohl von den
über den einzelnen Staat bezw. die einzelne Na-
tion hinausgehenden menschlichen Verbänden,
insbesondere der katholischen Kirche und der
V.ölkerrechtsgemeinschaft, als auch
von den innerhalb der einzelnen Staaten be-
stehenden persönlichen oder territorialen Verbän-
den. Die für einen engen Kreis von Menschen
geltenden, speziellen oder lokalen, Gew werden.
vorzugsweise als Observanzen bezeichnet;
unbestimmter ist der Ausdruck Herkommen,
der besonders auch für eine nur auf subjektive
Rechte bezügliche Uebung gebraucht wird. Zwi-
schen einzelnen Rechtssubjekten als solchen aber
kann sich für ihre gegenseitigen rechtlichen Bezie-
hungen kein Gewl bilden (O G8, 231; 12, 275).
2. Die rechtliche Ueberzeugung.
a) Vielfach liegt schon der Bildung menschlicher
Verbände eine gemeinsame Denkweise der Mit-
glieder zu Grunde. Allgemein aber entstehen na-
turgemäß unter den Mitgliedern eines Verbandes
gemeinsame Ansichten bezw. Ueberzeugungen
über die gegenseitigen äußeren Beziehungen und,
wenn diese sich für eine rechtliche Normierung
eignen, insbesondere auch über eine solche. Frei-
lich werden nicht alle Mitglicder ohne Ausnahme
dieselbe Anschauung teilen oder in gleicher Stärke
haben; wir dürfen und müssen aber dicjenige An-
schauung, die im Kreise der Mitglieder nach Ver-
breitung und Stärke ganz entschieden überwiegt,
als einen Ausfluß der Gemeinschaft
ansehen.
b) Zur Bildung eincs Gewf genühgt jedoch nicht
die Ueberzeugung der Mitglieder des Verbandes,
daß für ihre gegenseitigen Beziehungen ein be-
stimmter Rechtssatz gerecht oder zweck-
mäßig sei; darin würde zunächst nur ein Motiv
zu einer bewußten Rechtsbildung dieses Inhalts
iegen. Die Ueberzeugung muß vielmehr dahin
gehen, daß der betreffende Satz bereits recht-
liche Geltung für die Mitglieder habe,
ein Teil der Rechtsordnung des Verbandes sei
(opinio iuris s. necessitatis in diesem Sinn).
Eine solche Ueberzeugung wird sich vielfach un-
willkürlich unter der Einwirkung der Anschauung
von der Vernunftgemäßheit des Satzes bilden;
es können dafür aber auch andere Momente, vor
allem der Glaube, daß eine gesetzliche Bestim-
mung dieses Inhalts bestehe, mehr oder weniger
maßgebend sein (vgl. unten 4c).
3. Die rechtliche Uebung. Die ge-
meinsame rechtliche Ueberzeugung muß, um
rechtsbildend zu wirken, äußerlich erkennbar sein.
Hiefür ist die praktische Befolgung des in der
Ueberzeugung enthaltenen Rechtssatzes nicht allei-
niges, aber vorzugsweise geeignete: und wichtiges
Mittel. Die rechtliche Uebung hat jedoch noch
eine andere und für die GewRBildung unent-
behrliche Bedeutung. Sie ist notwendige
Gewohnheitsrecht
Erscheinungsform jedes Gewm, weil
nur sie imstande ist, die erforderliche Festigkeit
und Stärke der Ueberzeugung sowie die vermut-
liche Uebereinstimmung ihres Inhalts mit den
wirklichen Bedürfnissen der Gemeinschaft zu be-
kunden. Häufig wird zudem erst die wiederholte
praktische Anwendung des Rechtssatzes der Ueber-
zeugung von seinem Bestehen die erforderliche
Stärke und Verbreitung verschaffen. Damit aber
die Uebung diese Wirkungen habe, braucht sie
nicht eine Gewohnheit in dem Sinne einer
während längerer Zeit in einer größeren Zahl
von Fällen gleichmäßig beobachteten Handlungs-
weise zu sein; durch die rasche Auseinundersoßge
zahlreicher Uebungsfälle kann die längere Uebungs-
zeit überflüssig werden, und durch ihre besondere
Beschaffenheit können selbst wenige Fälle in ver-
hältnismäßig kurzer Zeit das Bestehen einer
festen und starken gemeinsamen Rechtsüberzeu-
gung dartun.
Dagegen ist auch ein lange Zeit gleichmäßig im
Rechtsleben geübtes Verhalten der Mitglieder
einer Gemeinschaft ohne entsprechende rechtliche
Ueberzeugung nicht imstande, objektives Recht zu
erzeugen. Einem solchen in rechtlichen Be-
ziehungen befolgten Gebrauch (Geschäfts-
gebrauch, Verkehrssitte) kommt aller-
dings auch eine erhebliche rechtliche Bedeutung
zu, aber von einem Gew ist er spezifisch ver-
schieden.
4. Weitere begriffsmäßige Er-
fordernisse eines gültigen Gewgbestehen
nicht. Insbesondere bedarf das GewR für seine
Geltung keiner staatlichen Anerkennung und ist
weder Unvernünftigkeit des Inhalts noch Irrtum
der Uebenden ein Hindernis für das Dasein eines
gültigen Gewohnheitsrechts.
a) Die in der gemeinrechtlichen Theorie lange
Zeit herrschende, auch jetzt noch von hervorra-
genden Schriftstellern (wie Binding, Seydel,
O. Mayer) vertretene Anschauung, daß ein GewK
nur mit (allgemeiner oder besonderer, ausdrück-
licher oder stillschweigender) Anerkennung
bezw. Gestattung der Staatsgewalt bestehen
könne, entbehrt der Begründung, wenn man
nicht den Staatswillen als einzige Quelle des
Rechts betrachtet, und widerspricht jedenfalls dem
geschichtlichen Verhältnis zwischen GewR und
Gesetz. Der äußere Grund für die bindende Kraft
der Sätze des GewfN liegt vielmehr in der Rechts-
quelle selbst, in der Art der Entstehung
dieser Rechtssätze.
b) Der innere Grund für die Verbindlichkeit
von Gew i ist, wie für die Verbindlichkeit des ob-
jektiven Rechts überhaupt, die durch die Art der
Entstehung gegebene überwiegende Wahrschein-
lichkeit, daß die so entstandenen Rechtssätze den
vernünftigen Bedürfnissenderihnen
unterworfenen Personen entsprechen. Diese so
begründete Vermutung der realen (geschichtlichen)
Vernunftgemäßbeit des objektiven Rechts schließt
ein Abhängigmachen der Geltung der einzelnen
Rechtssätze von einer Prüfung der Ver-
nunftgemäßheit ihres Inhalts
aus. Dagegen liegt es allerdings im Wesen des
Rechts überhaupt, daß eine Norm keine rechtliche
Geltung haben kann, wenn sie einem höheren un-
nachgiebigen Rechtssatz derselben Gemeinschaft
oder einem die Mitglieder dieser Gemeinschaft un-