Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Zweiter Band. G bis N. (2)

mittelbar verpflichtenden unnachgiebigen Rechts- 
satz einer höheren Gemeinschaft widerspricht. 
Daher kann insbesondere ebenso wenig ein GewR 
wie ein Gesetz eines engeren Verbandes gegen 
einen partikuläre Rechtsbildungen aus- 
schließenden Rechtssatz eines weiteren und höheren 
Verbandes gültig sich bilden (ein solches Verbot 
einem Reichsgesetz widersprechenden partikulären 
GewRechtes ist, wenn nicht unmittelbar in RV 
à 2 enthalten, dann auf dem Wege der Analogie 
aus diesem abzuleiten). 
Tc) Für die gültige Entstehung eines Rechts- 
satzes sind die Motive der rechtsbildenden 
Faktoren bedeutungslos. Vor allem ist daher 
ein Irrtum derselben über die Vernunftge- 
mäßheit des Inhalts der Rechtsnorm gleichgültig. 
Der Bildung eines GewR kann aber auch insbe- 
sondere eine der gemeinsamen Ueberzeugung zu- 
grunde liegende irrige Annahme des 
Vorhandenseins einer schon bestehenden ge- 
setzlichen Verpflichtung keinen Abbruch tun 
(anderer, wenn auch verklausulierter, Ansicht be- 
sonders das Reichsgericht). 
& 3. Kraft des Gewohnheitsrechts. Dem 
Gewsk kommt die gleiche Kraft wie dem 
Gesetze zu. Aus diesem Grundsatz ergeben sich 
für das gegenseitige Verhältnis der beiden Rechts- 
quellen insbesondere folgende Konsequenzen: 
1. Durch Gewr kann das Gesetz nicht nur be- 
kräftigt, ausgelegt, ergänzt, sondern auch ab- 
geändert werden. Diese derogatori- 
sche Kraft des Gewr ist auch im Justinianischen 
wie im kanonischen Recht anerkannt (Brie S 37 ff, 
78 ff), ebenso in den Gesetzen des früheren deut- 
schen Reichs; sie wird auch vom Reichsgericht durch- 
aus anerkannt. 
2. Jede der beiden Rechtsquellen kann auch 
für die Betätigung der andern Rechtsquelle bin- 
dende Bestimmungen aufstellen. Wie durch 
gewohnheitsrechtliche Sätze der Weg der Gesetz- 
gebung normiert werden kann, so kommt anderer- 
seits dem Gesetz die Kraft zu, die begriffsmäßigen 
Erfordernisse des GewR näher zu regeln (z. B. 
eine bestimmte Uebungszeit vorzuschreiben) und 
auch weitere Erfordernisse aufzustellen (in unse- 
rem heutigen Reichsrecht finden sich aber keine 
gesetzlichen Bestimmungen der einen oder andern 
Art). Dagegen vermag die Gesetzgebung, ebenso 
wie sie die Abänderung bezw. Aupfhebung eines 
bestehenden Gesetzes durch ein neues Gesetz nicht 
in gültiger Weise verbieten kann, auch nicht, dero- 
gatorisches, aus demselben Verbande hervor- 
gehendes Gewß rechtswirksam zu untersagen. 
Auch dem Gewohnheitsrecht ge- 
genüber gibt es keine lex in per- 
petuum valit ura. 
II. Das Gewohnheitsrecht auf dem Gebiete des 
öffentlichen Rechts, insbesondere des Staats- 
und Verwaltungsrechts 
# 4. Im öffentlichen Recht überhaupt. 1. Das 
Gewn ist Quelle nicht nur des privaten, sondern 
auch des öffentlichen Rechts. Auf beiden Gebieten 
sind die unter 1 aufgestellten Grundsätze maß- 
gebend. Die Frage, ob ein durch Gew geschaf- 
fener Rechtssatz öffentlich= oder privatrechtlicher 
Natur ist, beantwortet sich, wie bei dem gesetzten 
Recht, nach der Zugehörigkeit des von ihm ge- 
  
Gewohnheitsrecht 
  
— J — — — — 
regelten Rechtsverhältnisses zu dem einen oder 
andern dieser beiden großen Rechtsgebiete (RG3 
17, 181; 37, 180; 58, 134). Wichtig ist diese Ab- 
grenzung besonders deshalb, weil die in modernen 
Zivilgesetzbüchern enthaltenen Beschränkungen des 
GewR nicht ohne weiteres auch auf das Gew 
im öffentlichen Rechte bezogen werden dürfen 
(vgl. insbes. über #§ 10 des österreichischen BG#B 
Seidler S 5—6). Die die Geltung von Gewlt 
einengenden Bestimmungen des ALR (Einl. 
6# l 3, 4, 60) erstrecken sich freilich, da diese Kodi- 
fikation das öffentliche Recht mit umfaßt, auch auf 
das letztere, und nach Aufhebung der betreffenden 
Bestimmungen für das Gebict des Privatrechts 
durch das AG z. BGB a 89 kommen sie nur noch 
für das öffentliche Recht in Betracht (vgl. jedoch 
über das Verbot derogatorischen Gewechtes 
oben # 3 a. E.). 
2. Wenn die Bedeutung des Gewg als Rechts- 
quelle heutzutage hinter derienigen des Gesetzes 
sehr zurücktritt, so ist dies doch innerhalb des öffent- 
lichen Rechts kaum in größerem Maße als inner- 
halb des Privatrechts der Fall. Auf dem Gebiete 
des Völkerrechts war sogar das Gewn, 
infolge des Mangels einer über den souveränen 
Staaten stehenden gesetzgebenden Gewalt und bei 
der großen Schwierigkeit vertragsmäßiger Rechts- 
setzung für zahlreiche Beteiligte, bis in die neueste 
Zeit die hauptsächliche Rechtsquelle; gegenwärtig 
wird allerdings auch hier seine Wirksamkeit in 
wachsendem Maße eingeengt durch rechtsetzende 
Verträge von mehr oder weniger allgemeiner Gel- 
tung. Die Möglichkeit umfassender Betätigung 
ist aber in den modernen Staaten dem Gews 
auch auf den Gebieten des Staats= und Verw- 
Rechts verblieben (s. &# 5 und 6). 
5. Auf dem Gebiete des Staatsrechts. 
1. Die Hauptsätze des Staatsrechts der modernen 
Staaten pflegen allerdings in Verfassungs- 
urkunden seixiert zu sein und sollen durch 
erschwerende Erfordernisse für Abänderungen 
einer solchen Urkunde möglichst in dauernder Gel- 
tung erhalten werden. Aber diese erschwerenden 
Formen sind doch nur bei Abänderungen, die auf 
dem Wege der Gesetzgebung erfolgen, zu beob- 
achten; sie sollen und können nicht auf unbewußte 
Rechtsbildungsvorgänge Anwendung finden. Die 
Normen der Verfassungsurkunde unterliegen da- 
her auch der derogatorischen Einwirkung 
des Gewohnheitsrechts, ohne daß hier- 
für besondere Beschränkungen beständen. Freilich 
werden namentlich in den verfassungsmäßigen 
gegenseitigen Beziehungen der Staatsorgane 
allmählich, besonders infolge einer Aenderung der 
politischen Machtverhältnisse oder aus Gründen 
der Zweckmäßigkeit, mannigfache tatsächliche 
Wandlungen stattfinden, die zum Teil auch 
lange Zeit hindurch keinen oder nur einen bestrit- 
tenen gewohnheitsrechtlichen Charakter erlangen, 
weil den beteiligten Faktoren oder wenigstens 
einem von ihnen die Ueberzeugung von der recht- 
lichen Notwendigkeit ihres Verhaltens fehlt oder 
die erforderliche übereinstimmende Rechtsüber- 
zeugung dieser Faktoren zum mindesten nicht sicher 
nachgewiesen werden kann. Solche Verände- 
rungen sind auch schon in dem verfassungsmäßigen 
Organismus des neuen deutschen Reichs in mehr- 
fachen Beziehungen eingetreten (Laband, Die 
Wandlungen der deutschen Reichsverfassung 1895, 
v. Stengel- Fleischmann, Wörterbuch 2. Aufl. II. 19
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.