Politik
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die Gefahr einer zu laxen und ausdehnenden
Problemstellung. Andererseits führt die aus
methodischen Gründen notwendig gewordene
Selbstbeschränkung der modernen P., die philo-
sophisch-dogmatischen Betrachtungen der älteren
Literatur abzustoßen, leicht über das Ziel hinaus;
sie hat teilweise zu einer ärmlichen und einseitigen
Stoffauslese verleitet.
Unter allen Umständen verlangt die Zurück-
führung des empirischen Staatslebens auf die
allgemeingültigen, typischen Elemente — kurz
der systematische Charakter, der zum We-
sen der P. gehört, wenn sie überhaupt eine Son-
derwissenschaft bedeuten will — die Berücksichti-
gung zweier Gedankengruppen, die logisch ge-
trennt gehalten werden müssen, um dabei doch
möglichst vollkommen miteinander ausgeglichen
und in Beziehung gesetzt zu werden.
a) Sozialwissenschaftliche Seite
der Politik. Sopweit die P. an die Ge-
schichte anknüpft, muß sie die Staaten und
ihre dauernden äußeren Einrichtungen als Wir-
kung der gesellschaftlichen Verhältnisse
der Völker, und als etwas erkennen, was in Wech-
selwirkung auf Sitte, Wirtschafts-, Geistesleben
der Völker zurückstrahlt. Die systematisierende
Betrachtung gilt hier dem, was sich allgemein
aussagen läßt über die Lebensbedingungen, die
der Mohnsitz (Klima und Gebiet), über die Be-
dingungen, die das Wechselverhältnis zu andern
Nationen schafft, über den Nationalcharakter,
die wirtschaftlichen und geistigen, besonders re-
ligiösen, Bedürfnisse, über die äußeren und in-
neren Kämpfe und Erlebnisse (Kriege und Par-
teiungen), die aus den genannten und andern
Existenzverhältnissen erwachsen. Die P. prüft
dann die ursächlichen Zusammenhänge zwischen
der verschiedenen Zusammensetzung und Betäti-
gungsart des gesellschaftlichen Körpers mit der
Verfassung oder Funktionsweise des Staats und
umgekehrt die Rückwirkung der Staaten auf die
Gesellschaftskomplexe, die sich in ihnen organisieren.
In diesen Gedankengängen tritt die P. als staat-
liche Gesellschaftslehre, als politische
Soziallehre auf. Das Zentrum ihrer Un-
tersuchung werden naturgemäß diejenigen Kräfte
des Volkstums bilden, in denen die Einzelmen-
schen, sei es als überragende schöpferische Indi-
viduen, sei es als gruppenmäßige Aggregate ge-
meinsamer Sonderinteressen, als „Parteien“ im
weitesten Sinn, auf Gestaltung und Tätigkeit des
Staats zu wirken streben. Nur fordert die Be-
obachtung dieser Parteien nicht bloß die
Charakteristik der führenden Persönlichkeiten und
der realen Gruppeninteressen, sondern auch die
der Ideenkomplexe, die der Partei als gedankliche
Rechtfertigung und Verknüpfung ihrer Pro-
gramme dienen, und so halten unter dem Ge-
sichtspunkt der Parteidoktrin in die vo-
litische Soziallehre auch die Lehren wieder ihren
Einzug, die als wissenschaftlich -allge-
meingültige Systeme der P. ihre Exi-
stenzberechtigung nach dem früher gesagten
(§F7—9) eingebüßt haben. Gerade wer die Lehre
Lockes oder Rousseaus, Spencers oder Marxens
als bedingt durch das individuelle Empfinden,
subjektiv erkennt, wird sie um so mehr als Schlag-
wort oder Sammelvunkt der gesellschaftlichen
Machtfaktoren, die den Staat in Leben und Be-
wegung erhalten, und damit selbst als geistige
Machtfaktoren zu würdigen wissen. M. a. W., die
politischen Doktrinen, in ihrer dogmatischen Ein-
seitigkeit wertlos geworden als wissenschaftlicher
Begriffsunterbau des politischen Systems, bleiben
in ihrem historischen Wechsel hintereinander und
in ihrer gegensätzlichen Vielheit nebeneinander
bedeutsam als Elemente einer politischen
Soziallehre.
b) Juristische Seite der Politilk.
Ein Ganzes wird die P. aber erst dadurch, daß
neben den wesentlichen Eigentümlichkeiten der in
den Staaten vereinigten Volksgruppen auch die
Organisations= und Herrschafts-
formen der Staaten analysiert und in Ver-
gleich gezogen werden. Da auf dauernden Wert
nur die von der allgemeinen Billigung, von der
Rechtsüberzeugung des Volks oder
seiner herrschenden Gruppen getragenen Ein-
richtungen Anspruch erheben können, so grenzt
hiermit die P. an die Rechtswissenschaft
an (5 9 a. E.). Sie wird zu ihrem andern Teil
vergleichende Staats-Rechtslehre. Hier-
bei hat sie sich natürlich ebensowohl mit den
Rechtsverhältnissen des staatlichen Verfas-
sungsrechts' im e. S., d. h. mit den recht-
lich geordneten Machtverhältnissen zwischen den
staatlichen Organen — Staatshaupt, (Landes-
herrI#Il., Präsident) und Volksvertretung, Staats-
haupt und Ministerium (I, Ministerium und Par-
lament, Erster und Zweiter Kammer der Volks-
vertretung — oder dem zwischen den staatlichen
Verbänden (Gesamtstaat, Gliedstaat, Pro-
vinz[/, Kreis (NI, Gemeinde [) oder zu deren
Organen zu beschäftigen wie auch mit den
Rechtsverhältnissen des Staatsrechts im
engeren Sinn, d. h. mit den Pflicht-
verhältnissen zwischen Staat und Volk, den Auf-
gaben und Schranken des Staats gegenüber
den Bürgern und den Lasten und Beschrän-
kungen der Bürger zugunsten des Staats. Aller-
dings werden in beider Hinsicht nur die wichtig-
sten Prinzipien und Institutionen Berücksichti-
gung finden — etwa in dem Umfange, wie sie
heute in den Staatsgrundgesetzen,
den Verfassungsurkunden oder „Ver-
fassungen“ [M im materiellen, konkreten Sinn und
gewissen, sich an sie anschließenden Hauptgesetzen
vereinigt zu sein pflegen. So wird die P. als
Staatsrechtslehre vom modernen Standvunkt aus
zunächst vergleichende Verfassungslehre.
Aber, es ist zu bedenken, daß in älteren Zeiten die
staatsrechtlichen Formen gar nicht durch geschrie-
benes Recht, Gesetz festgelegt waren, und auch
heute noch wird die geschriebene Verfassung sehr
häufig durch Staatspraxis, Uebung, außer Kraft
gesetzt, die, wenn sie von der Rechtsüberzeugung
des Volkes getragen wird, Ausdruck eines Ge-
wohnheitsrechtsl#] wird. Da aber die po-
puläre Rechtsüberzeugung, die Billigung staat-
licher Formen durch die öffentliche Meinung,
häufig nur aus den Lebensgewohnheiten des
Volks erkannt werden kann, so stehen staatliche
Rechtslehre und staatliche Sosziallehre (oben a)
zum Teil in engster Berührung.
& 11. Staatslehre im engeren Sinn und Politik
im engeren Sinn. Mit der eben dargelegten Ge-
gensätzlichkeit der Betrachtungsweise hängt eine