Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Dritter Band. O bis Z. (3)

  
Politik 
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die Gefahr einer zu laxen und ausdehnenden 
Problemstellung. Andererseits führt die aus 
methodischen Gründen notwendig gewordene 
Selbstbeschränkung der modernen P., die philo- 
sophisch-dogmatischen Betrachtungen der älteren 
Literatur abzustoßen, leicht über das Ziel hinaus; 
sie hat teilweise zu einer ärmlichen und einseitigen 
Stoffauslese verleitet. 
Unter allen Umständen verlangt die Zurück- 
führung des empirischen Staatslebens auf die 
allgemeingültigen, typischen Elemente — kurz 
der systematische Charakter, der zum We- 
sen der P. gehört, wenn sie überhaupt eine Son- 
derwissenschaft bedeuten will — die Berücksichti- 
gung zweier Gedankengruppen, die logisch ge- 
trennt gehalten werden müssen, um dabei doch 
möglichst vollkommen miteinander ausgeglichen 
und in Beziehung gesetzt zu werden. 
a) Sozialwissenschaftliche Seite 
der Politik. Sopweit die P. an die Ge- 
schichte anknüpft, muß sie die Staaten und 
ihre dauernden äußeren Einrichtungen als Wir- 
kung der gesellschaftlichen Verhältnisse 
der Völker, und als etwas erkennen, was in Wech- 
selwirkung auf Sitte, Wirtschafts-, Geistesleben 
der Völker zurückstrahlt. Die systematisierende 
Betrachtung gilt hier dem, was sich allgemein 
aussagen läßt über die Lebensbedingungen, die 
der Mohnsitz (Klima und Gebiet), über die Be- 
dingungen, die das Wechselverhältnis zu andern 
Nationen schafft, über den Nationalcharakter, 
die wirtschaftlichen und geistigen, besonders re- 
ligiösen, Bedürfnisse, über die äußeren und in- 
neren Kämpfe und Erlebnisse (Kriege und Par- 
teiungen), die aus den genannten und andern 
Existenzverhältnissen erwachsen. Die P. prüft 
dann die ursächlichen Zusammenhänge zwischen 
der verschiedenen Zusammensetzung und Betäti- 
gungsart des gesellschaftlichen Körpers mit der 
Verfassung oder Funktionsweise des Staats und 
umgekehrt die Rückwirkung der Staaten auf die 
Gesellschaftskomplexe, die sich in ihnen organisieren. 
In diesen Gedankengängen tritt die P. als staat- 
liche Gesellschaftslehre, als politische 
Soziallehre auf. Das Zentrum ihrer Un- 
tersuchung werden naturgemäß diejenigen Kräfte 
des Volkstums bilden, in denen die Einzelmen- 
schen, sei es als überragende schöpferische Indi- 
viduen, sei es als gruppenmäßige Aggregate ge- 
meinsamer Sonderinteressen, als „Parteien“ im 
weitesten Sinn, auf Gestaltung und Tätigkeit des 
Staats zu wirken streben. Nur fordert die Be- 
obachtung dieser Parteien nicht bloß die 
Charakteristik der führenden Persönlichkeiten und 
der realen Gruppeninteressen, sondern auch die 
der Ideenkomplexe, die der Partei als gedankliche 
Rechtfertigung und Verknüpfung ihrer Pro- 
gramme dienen, und so halten unter dem Ge- 
sichtspunkt der Parteidoktrin in die vo- 
litische Soziallehre auch die Lehren wieder ihren 
Einzug, die als wissenschaftlich -allge- 
meingültige Systeme der P. ihre Exi- 
stenzberechtigung nach dem früher gesagten 
(§F7—9) eingebüßt haben. Gerade wer die Lehre 
Lockes oder Rousseaus, Spencers oder Marxens 
als bedingt durch das individuelle Empfinden, 
subjektiv erkennt, wird sie um so mehr als Schlag- 
wort oder Sammelvunkt der gesellschaftlichen 
Machtfaktoren, die den Staat in Leben und Be- 
  
  
wegung erhalten, und damit selbst als geistige 
Machtfaktoren zu würdigen wissen. M. a. W., die 
politischen Doktrinen, in ihrer dogmatischen Ein- 
seitigkeit wertlos geworden als wissenschaftlicher 
Begriffsunterbau des politischen Systems, bleiben 
in ihrem historischen Wechsel hintereinander und 
in ihrer gegensätzlichen Vielheit nebeneinander 
bedeutsam als Elemente einer politischen 
Soziallehre. 
b) Juristische Seite der Politilk. 
Ein Ganzes wird die P. aber erst dadurch, daß 
neben den wesentlichen Eigentümlichkeiten der in 
den Staaten vereinigten Volksgruppen auch die 
Organisations= und Herrschafts- 
formen der Staaten analysiert und in Ver- 
gleich gezogen werden. Da auf dauernden Wert 
nur die von der allgemeinen Billigung, von der 
Rechtsüberzeugung des Volks oder 
seiner herrschenden Gruppen getragenen Ein- 
richtungen Anspruch erheben können, so grenzt 
hiermit die P. an die Rechtswissenschaft 
an (5 9 a. E.). Sie wird zu ihrem andern Teil 
vergleichende Staats-Rechtslehre. Hier- 
bei hat sie sich natürlich ebensowohl mit den 
Rechtsverhältnissen des staatlichen Verfas- 
sungsrechts' im e. S., d. h. mit den recht- 
lich geordneten Machtverhältnissen zwischen den 
staatlichen Organen — Staatshaupt, (Landes- 
herrI#Il., Präsident) und Volksvertretung, Staats- 
haupt und Ministerium (I, Ministerium und Par- 
lament, Erster und Zweiter Kammer der Volks- 
vertretung — oder dem zwischen den staatlichen 
Verbänden (Gesamtstaat, Gliedstaat, Pro- 
vinz[/, Kreis (NI, Gemeinde [) oder zu deren 
Organen zu beschäftigen wie auch mit den 
Rechtsverhältnissen des Staatsrechts im 
engeren Sinn, d. h. mit den Pflicht- 
verhältnissen zwischen Staat und Volk, den Auf- 
gaben und Schranken des Staats gegenüber 
den Bürgern und den Lasten und Beschrän- 
kungen der Bürger zugunsten des Staats. Aller- 
dings werden in beider Hinsicht nur die wichtig- 
sten Prinzipien und Institutionen Berücksichti- 
gung finden — etwa in dem Umfange, wie sie 
heute in den Staatsgrundgesetzen, 
den Verfassungsurkunden oder „Ver- 
fassungen“ [M im materiellen, konkreten Sinn und 
gewissen, sich an sie anschließenden Hauptgesetzen 
vereinigt zu sein pflegen. So wird die P. als 
Staatsrechtslehre vom modernen Standvunkt aus 
zunächst vergleichende Verfassungslehre. 
Aber, es ist zu bedenken, daß in älteren Zeiten die 
staatsrechtlichen Formen gar nicht durch geschrie- 
benes Recht, Gesetz festgelegt waren, und auch 
heute noch wird die geschriebene Verfassung sehr 
häufig durch Staatspraxis, Uebung, außer Kraft 
gesetzt, die, wenn sie von der Rechtsüberzeugung 
des Volkes getragen wird, Ausdruck eines Ge- 
wohnheitsrechtsl#] wird. Da aber die po- 
puläre Rechtsüberzeugung, die Billigung staat- 
licher Formen durch die öffentliche Meinung, 
häufig nur aus den Lebensgewohnheiten des 
Volks erkannt werden kann, so stehen staatliche 
Rechtslehre und staatliche Sosziallehre (oben a) 
zum Teil in engster Berührung. 
& 11. Staatslehre im engeren Sinn und Politik 
im engeren Sinn. Mit der eben dargelegten Ge- 
gensätzlichkeit der Betrachtungsweise hängt eine
	        
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