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Politik
andere Differenzierung des politischen Stoff= und
Interessenkreises eng zusammen.
a) Begriffsanalytische und kri-
tische Betrachtungsweise. Die all-
gemein-vergleichende Betrachtung des Staats-
lebens kann sowohl wenn sie sich den Beziehungen
der Gesellschaft zum Staat (als Soziallehre) wie
wenn sie sich den Rechtsformen des Staats (als
Staatsrechtslehre) zuwendet, zunächst bei der Be-
schreibung und Analyse der gegebenen Gesell-
schafts= oder Rechtszustände Halt machen. Sie
wird z. B. die Entstehungsbedingungen der Staa-
ten, deren Funktionen, das Verhältnis zwischen
Staatshaupt (Fürsten, Präsidenten), dem Mini-
sterium und den beiden Häusern der Volksvertre-
tung, die Teilung und Abgrenzung der staatlichen
Funktionen zwischen dem Staate und den ihm
eingegliederten Körverschaften, den Selbstver-
waltungskörpern (Provinz, Gemeinde usw.) in
den alle diese Beziehungen beherrschenden Be-
griffen und in den tatsächlich vorkommenden
möglichen Schutzmaßregeln, Formen
darlegen.
Wie aber der frühere Rückblick auf die Genesis
der P. beweist (oben 55 1—6), die gerade hier von
besonderer Bedeutung wird, war das eigentliche
Ziel politischer Literatur zu allen Zeiten das, die
Vorzüge und Mängel der bestehenden
politischen Zustände aufzudecken und zu verstehen
und die Fortbildung, Reform der politischen Lage
vorzubereiten, auch hier bald mehr in Hinblick
auf die gesellschaftlichen Verhältnisse,
auf die politische Gesinnung, Pflichttreue, Bil-
dung des Volks, bald mehr auf die formellen,
die Verfassungseinrichtungen. Hier entfaltet die
P. eine kritisierende, wertbeurtei-
lende Funktion.
b) Versuch der Trennung von
Staatslehre und Politik. Die mo-
derne Wissenschaft vom Staate hat mit vollem
Recht auf die Scheidung der doppelten Problem-
stellung, der deskriptiven und der kri-
tischen, Gewicht gelegt. Sie mußte das vor
allem im Gegensatz zur älteren P. (oben 88 2— 8)
bei der auf der Grundlage ihrer dogmatisch-
philosophischen Leitideen und ihrem Streben nach
dem Idcal des „besten Staats“ die erkennende
und die wertende Betrachtung des Staats unaus-
gesetzt ineinander flossen. Hierauf weitergehend
hat aber die moderne Doktrin (Bluntschli, Nehm,
besonders Jellinek) geradezu die Sonderung
zweier Wissenschaftszweige, der
„Staatslehre“ im engern Sinn
und der „Politik"“ im engern Sinn,
gofordert und teilweise zu vollzichen gesucht. Die
Sts# soll sich nur mit der Vielheit der geschichtlichen
Staaten in der Nuhe beschäftigen, mit dem,
was sich allgemein über ihren tatsächlichen Be-
stand an soziologischen und juristischen Begriffen
und Einrichtungen aussagen läßt. Die P. soll
die Staatenwelt als etwas im Flusse befindliches
prüfen, die einzelnen Staaten auf ihre Vorzüge
und Mängel und auf die in der Zukunft bevor-
stehende oder wünschenswerte Entwicklung mit-
einander vergleichen. Die Staatslehre ist im Hin-
blick auf die Staaten die Lehre vom Seienden,
sie „enthält wesentlich Erkenutnisur-
teile“, — die P. ist die Lehre vom Seinsollen-
den, sie hat „Werturteile zum Inhalt"“
(typisch Jellinek, Allg. St L Kap. 1 Nr. 3).
Diese Spaltung der Wissenschaft, die früher
ungeteilt als Staatslehre oder P. zusammen-
gefaßt worden war und die Einschränkung eines
jeden Teils auf eine Problemgruppe, die durch
die Namensbezeichnung nicht bedingt ist, bedeutet
jedoch etwas willkürliches und ungesundes. Na-
türlich ist es an und für sich jedem unbenommen,
bei der literarischen Behandlung einzelner Pro-
bleme nur die eine oder nur die andere Seite
ins Auge zu fassen. Aber etwas anderes ist es,
diese Sonderung systematisch durchzu-
führen. Es handelt sich hier nicht um zwei
Gedankenkreise, die sich wohl innerlich berühren,
aber doch selbständig abgrenzbar
einander gegenüberstehen. Viel-
mehr ist überall die Begriffsuntersuchung die
bloße Vorfrage für die kritisch-wert-
beurteilende. Sie beschafft nur einen Teil
des Materials, das durch anderes erweitert und
verfeinert werden muß, um die politische
Betrachtung im engern Sinn zu ermöglichen.
Der letzteren wendet sich deshalb die wissenschaft-
liche Betrachtung nicht als einer anders-
artigen,, sondern als der höheren Frage
zu, nur daß sie ihrerseits der Untersuchungen der
„Staatslehre“ im e. S. niemals als ihrer Vor-
bereitung entraten kann. 6
Somit wäre es ganz verfehlt, die beiden Ge-
dankenkreise, die in dem zu bearbeitenden Stoff
zusammengehören und nicht nebeneinander, son-
dern in einem natürlichen Rangverhältnis zueinan-
der stehen, zu zerreißen. Eine Staatslehre als
êbloßes System der in allen Staaten und Staats-
rechten wiederkehrenden Begriffe
müßte stets eine dürftige Disziplin bleiben. Sie
würde einen gewissen Wert als Hilfswissenschaft
der positiven Staatsrechtswissen-
schaft jedes Einzelstaats behalten.
Aber ihre Bekrönung erreicht die allgemeine Be-
trachtung der Staatenwelt wie zu allen Zeiten
(oben && 1, 2) so auch heute noch als Verfas-
sungskritik.
Wird z. B. geprüft, welches die Bedingungen für die
Entstehung eines Staats überhaunpt sind,
so kann die begriffliche Untersuchung lediglich feststellen, daß
das Zusammenleben ceiner Menschenvielheit in
« irgend einem gemeinsamen Gebiet genügt, um es zur
staatlichen Crganisation dieser Bevölkerung zu führen.
Die Mischung der VBevölkerung aus verschie-
denen Abstammunagselementen, die durch Kolonisation,
Eroberung, allmähliche Zuwanderung usw. geschaffen wor-
den ist, die Art des Gebiets, Offenheit oder Ge-
schlossenheit, Einheit oder Zerrissenbeit durch Gebirge,
Gewässer u. a. find für das Existentwerden eines Staates
an sich vollkommen alceichgültig. In Wahrheit beaginnt aber
an dieser Stelle erst die interessante Seite des Problems.
Denn die in dividuelle Eigenart der verschiede-
neu Staaten wird in erster Linie durch die Gegensätze der
Bevölkerungsgrupven, sei cs gleicher oder ähnlicher Tradition
(Nationalitäten), sei es stark getrennter Vergangenheit (Ras-
sen), durch die Gegensätze der Grenzen (/j, klimatnischen Stri-
che, bodenplastische Bildung der Gebiete begründet. Von die-
sen individuellen Eigenschaften aber bängt dic größere oder
geringere Bollkommenheit der Staaten ab, Sicher-
heit oder Unsicherheit nach außen, Einheit oder Zerrissenbeit
der Interessen und damit der militärischen oder kulturellen
Leistungssähigkeit der Staaten. Die Klärung der staatlichen