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Reich (A. Verfassung)
unfertigen Zustand. Die Verträge enthielten
wei voneinander sehr abweichende Fassungen,
ie eine im badisch-hessischen, die andere im
bayrischen Bündnisvertrage; dazu kamen die im
württembergischen Vertrage enthaltenen Ver-
änderungen und Vorbehalte. Der RT des Nordd.
Bundes hatte nur den Vt über die Abänderung
der nordd. Verfassung genehmigt, die Abänderung
selbst aber nicht direkt beschlossen. Die Ausdrucks-
weise war nicht einheitlich, indem die Bezeich-
nungen „Kaiser“ und „Reich“ nur an zwei Stellen
vorläufig Aufnahme gefunden hatten. Aus diesen
Gründen wurde dem ersten RT der Entw einer
N vorgelegt, welcher vom RT genehmigt und
am 16. 4. 71 als RGesetz verkündigt wurde.
Dieses Gesetz enthält zwei Bestandteile, die Ver-
fassung und das Publikationsgesetz.
Die Verfassungsurkunde schließt
sich an die im bayrischen Vertrage vereinbarte
Fassung an, nimmt die Bayern und Württem-
berg zugestandenen Sonderrechte in den Text der
Verfassung auf und läßt andererseits die Ueber-
gangsbestimmungen über die Termine, an denen
Gesetze des Norddeutschen Bundes in den südd.
Staaten in Kraft treten sollten, welche als a 80
der Bundesverfassung angehängt worden waren,
aus der RV weg und verweist sie in das Publi-
kationsgesetz. Endlich werden die Bezeichnungen
„Kaiser“ und „Reich“ durch den ganzen Text
durchgeführt. Eine materielle Aenderung der
vereinbarten, am 1. 1. 71 in Kraft getretenen
Verf war nicht beabsichtigt; nur hinsichtlich der
Zusammensetzung des Bundesrats-Ausschusses für
die auswärtigen Angelegenheiten wurde eine
solche getroffen. »
Das Publikationsgesetz bestimmt, daß die bei-
efügte Verfassungsurkunde an die Stelle der
Versailler Verträge tritt, deren formelle Geltung
dadurch beseitigt und durch die RV v. 16. 4. 71
ersetzt wurde. Da das Bundesgesetzblatt, welches
das G v. 16. 4. 71 enthält, zu Berlin den 20. 4. 71
ausgegeben worden ist, so ist dies gemäß a 2
der Verf am 4. 5. 71 erfolgt.
8z 6. Die Abänderungen der Reichsverfassung.
Die RV ist in zweifacher Art fortgebildet und
abgeändert worden, teils ausdrücklich durch Ab-
änderungen des Textes der Verfassungsurkunde,
teils tatsächlich infolge der Gesetzgebung und Or-
ganisation des Reichs. Die ausdrücklichen Ab-
änderungen des Textes sind zurzeit zwölf; sie
betreffen die Abänderung der a 4 Ziff. 9 u. 13
(1873); 24 (1888); 28 Abs 2 (1873); 32 (1906);
38 Abs 2 Ziff. 3 4 (1906); 53 Abs 6 (1893); 54
(1911); 59 Abs 1 (1888 und 1905); 70 (1904) und
die Einfügung des a 6 a (1911) betreffend Elsaß-
Lothringen. Außerdem sind zahlreiche in der RV
enthaltene Uebergangsbestimmungen erledigt und
haben ihre Anwendbarkeit verloren.
Die materiellen Veränderungen der RV durch
die RGesetzgebung ohne Modifikation des Wort-
lautes lassen sich nicht ziffermäßig aufzählen. Die
früheste und vielleicht wichtigste fällt mit der
R-Gründung selbst zusammen; es ist die Vereini-
gung von Elsaß-Lothringen I[X mit dem Deutschen
R als RLand. Dies war nicht nur eine Erwei-
terung des RGebiets, sondern zugleich die Ein-
fügung eines heterogenen Elementes in den
VerfBau des R; denn die RV setzt überall eine
dem R untergeordnete Staatsgewalt und eine
Teilung der staatlichen Funktionen zwischen R und
Staat voraus, während das Wesen des RLands
in dem Mangel einer selbständigen Staatsgewalt
und der vollen Herrschaft des R besteht. Ebenso
ist durch die Erwerbung von Schutzgebieten [M
ein der V fremdes Element hinzugetreten.
Aber auch im übrigen ist der tatsächlich bestehende
Verf Zustand gegenwärtig ein völlig anderer
wie zurzeit der Errichtung des Norddeutschen
Bundes und des Deutschen R. Die Vergrößerung,
Vervollkommnung und Organisation der bewaff-
neten Macht (JHeerlj, die Entwicklung der
RGesetzgebung auf dem gesamten sozialpolitischen
Gebiete im weitesten Sinn dieses Wortes, ins-
besondere die Arbeiterversicherung (NI, die RJu-
stizgesetze, die Gewerbegesetzgebung (1I, das Frei-
zügigkeitsgesetz (1U, die einheitliche Regelung des
Erwerbs und Verlustes der Staats- und Ränge-
hörigkeit [1) und des Unterstützungswohnsitzes,
der Ausbau des Behördensystems und die Re-
gelung des RBeamtenrechts [ Beamtesj und
die vollkommene Veränderung der Finanzwirt-
schaft und Steuergesetzgebung des R haben eine
immer weitergehende Beseitigung des Selbst-
bestimmungsrechts der Einzelstaaten und der Ver-
schiedenheiten der Landesrechte, eine immer tiefer
greifende Verkettung der Einzelstaaten, eine im-
mer intensivere Beherrschung derselben durch das
°K zur Folge gehabt und diese in unitarischer Ten-
denz sich vollziehende Entwicklung ist noch nicht
zum Abschluß gelangt. Fast jedes neue N#set
führt sie weiter fort. Aus dem Wortlaut der R
ist daher der gegenwärtige Verf Zustand des R nur
in sehr unvollkommener Weise zu erkennen.
Kiteratur: Laband“ 1, 4f f„f H. v. Sybel
Die Begründung des D. R. durch Wilhelm I., 7 Bde.
1889 ff; Fürst Bismarck, Gedanken und Erinnerungen,
2 Bde., 1898: O. Lorenz, Kaiser Wilhelm und die
Begründung des Reichs, 1902; Anschütz in der Enzy-
klopädie der Rechtswissensch. 2, 480 ff; Mejer, Einleitung
in das deutsche Staatsrecht , 1884, 272 f; G. Meyer,
Die Reichsgründung und das Großherz. Baden, 1896;
W. Busch, Die Kämpfse um K und Kaisertum, 1906
(betrifft namentl. die Berhandlungen mit Württemberg und
Bayern); v. Ruville, Bayern und die Wiederaufrich-
tung des Deutschen Reichs, 1900; Graßmann in Anna-
len, 1898, 723 ff: Laband, Die geschichtl. Entwicklung
der N V seit der Reichsgründung, Jahrb Oefsr, 1907, 1 ffj;
Anschütz, Bismarck und die RB, 1899; Triepel,
Unitarismus und Föderalismus im D. R., 1907; Born-
hak, Wandlungen der R #,, Arch Oefs 26, 373 ff (1910).
Laband.
B. Reichsbehörden
I. RBsind diejenigen Behörden, welche Geschäfte
des Reichs führen und ihre Autorität unmittelbar
von der RGewalt ableiten. Dadurch ist das unter-
scheidende Merkmal zwischen R= und Landes-
behörden gegeben. Soweit dem Einzelstaate die
Verwaltung als eigenes Recht zusteht, ist die Füh-
rung derselben ein Geschäft des Einzelstaates, nicht.
des R, wenngleich die Verwaltung materiell und
formell durch Gesetze des R geregelt ist. Daher
ind z. B. die Gerichte, Zollbehörden, Eichungs-
ämter, Strandämter, Heimatsämter, die Militär-