Reichstag
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Zu nicht geringem Teile beruht der Geschäfts-
gang auf Gewohnheitsrecht [I. So hat sich das
echt des Präsidenten entwickelt, Verletzungen des
Anstands, die keine Ordnungsverletzung darstellen
zu rügen (Handlungen usw. als unparlamentarisch
zu bezeichnen). Durch Kammerobservanz kann die
Geschäftsordnung sogar geändert werden. In er-
heblichem Umfange wird das Verfahren nicht
durch Rechts-, sondern durch Verkehrsregeln (Ver-
kehrssitte) beherrscht. Auf solcher Parteikonven=
tion beruht das Belieben des Redners, die Dauer
seiner Rede zu bestimmen (zeitliche Redefreiheit),
die Pflicht der Unparteilichkeit des Präsidiums, die
Gleichbehandlung der Minderheiten (bei der Be-
setzung der Ehrenämter usw.); daß der „Schwerins-
tag" (unten § 5) ein Mittwochist, die Reihenfolge der
Redner nach Größe der Parteien und nach Freunden
und Gegnern des Antrags, daß der weitergehende
Antrag zuerst zur Abstimmung zu bringen ist; Er-
heben von den Sitzen, Hoch auf den Landesherrn
usw. Eines hat auch die Parteisitte noch nicht er-
zeugt, ein parlamentarisches Schikaneverbot. Min-
derheiten und Mehrheiten üben gar manchmal
Rechte nur, um anderen Parteien zu schaden.
4. Sitzungsperiode. Siehe vor allem Art.
Landtag § 14. Der RT darf sich nicht ver-
sammeln, ohne daß ihn der Kaiser beruft und
persönlich oder durch einen Stellvertreter eröffnet.
Mindestens einmal im Jahre muß der RI berufen
werden (RV 12, 13). Andererseits darf er nicht
länger versammelt bleiben, als der Kaiser will. Er
wird vom Keiser vertagt oder geschlossen, d. h.
er muß dann auseinander gehen. Auch während
der Vertagung dürfen Kommissionen keine Sitzung
halten (abweichend die R Praxis); ihre Existenz
behalten aber Kommissionen, Abteilungen, Vor-
stand. Der vom Kaiser versammelte R darf ohne
Genehmigung des Kaisers sich nicht trennen. Der
versammelte RT kann nur zwischen seinen Sitzun-
gen große Pausen eintreten lassen; der parlamen-
tarische Ausdruck dafür ist: er vertagt sich.
Während solcher Vertagung dürfen Kommissionen
Sitzungen halten; denn sie bedeutet nur zeitweises
Aufhören der Plenarzusammenkünfte. Die Auf-
lösung erfolgt nach RV 24 nicht durch den Kaiser,
sondern durch einen nur der Zustimmung des
Kaisers bedürfenden BBeschluß (RV 24). In
der Praxis wird der RT durch eine nach Zu-
stimmung des B ergehende kaiserliche Verord-
nung aufgelöst. Vertagt darf der RL auch auf
unbestimmte Zeit werden und, ist er geschlossen,
so steht es im Ermessen des Kaisers, wann er
ihn wieder berufen will. Endigt aber die Wahl-
periode vorzeitig durch Auflösung, so muß der RL
innerhalb 90 Tagen wieder versammelt werden
(RBV 25).
65. Berfahren im allgemeinen. Das meiste
ist bereits im Art. „Landtag“ 5 15 behandelt.
I. Das Verfahren ist nach der Geschäfts O nicht
für alle Beratungsgegenstände gleich. Ausgedehn-
ter müssen Gesetzentwürfe beraten werden, gleich-
ültig von wem sie ausgehen, und selbständige
nträge des BR, die keine Gesetzentwürfe ent-
halten (einfache Initiativanträge). Andere Gegen-
stände werden nur einmal beraten und beschlossen.
Dies abgekürzte Verfahren ist auch bei jenen An-
trägen des B zulässig, wenn dieser zustimmt. Alle
Vorlagen an den RIT werden vom Byz beschlossen
Recht der „Vorsanktion“) und auch als Vorlagen
des BMRR an den R gebracht, aber nicht im Namen
des BKR, sondern im Namen des Keisers, also
nicht durch den B#RVorsitzenden und seinen Ver-
treter, sondern durch die Reichs Min (RV 10).
Nach RV 16 werden die Vorlagen im RN durch
BRBevollmächtigte oder Kommissare des BR
vertreten. Allein gewohnheitsrechtlich sind erste
Vertreter nicht die Referenten über die Vorlage
im Bl, sondern die Reichs Min als solche. Nur für
das Ressort, für das ein technischer Reichs Min fehlt
(Heerwesen), pflegt als erster Vertreter nicht der
Kanzler oder sein allgemeiner Stellvertreter, son-
dern ein Bevollmächtigter, der preußische
Kriegs Minister [JI, zu fungieren. "
Bnträge genießen in der Beratung Vor-
rechte. Die Regierung darf sie jederzeit, also mit
Unterbrechung der Tagesordnung einbringen;
über ihre Anträge darf nicht zur Tagesordnung
übergegangen werden, d. h. sie dürfen nicht ohne
Beratung abgelehnt werden (GeschO 53). In-
direkt werden BR Vorlagen dadurch begünstigt,
daß a) kein Abgeordneter für sich allein einen
Initiativantrag einbringen darf, sondern sein An-
trag von 15 unterzeichnet sein muß, b) in der Regel
jede Woche nur eine Plenarsitzung stattfinden muß,
in der Mitgliederanträge (und Petitionen und
Beschwerden) auf der Tagesordnung Reg Vorlagen
voranzustellen sind. Ferner dürfen Vorlagen,
welche die Regierung zurückzieht, nicht von einem
Mitgliede zur Weiterführung ausgenommen wer-
den (Gesch O 24).
II. Das Parlament dient einem zweifachen
Zwecke der Beratung und der Beschlußfassung, also
dem Reden (Einzelinteresse) und dem Handeln (Ge-
samtinteresse). Obwohl Parlament Gespräch heißt,
bildet die Aussprache nicht den Hauptzweck. Be-
schlüsse sind dem Staatswohl förderlicher als
Reden.
Deshalb entsprechen dem Wesen des Par-
laments Vorkehrungen gegen Er-
schwerung der Beschlußfassung
durch Mißbrauch der zeitlichen Redefreiheit. Da-
her: 1) es gilt einfache Mehrheit; 2) die Kammer
muß eine Geschäftsordnung haben; 3) vor jeder
Sitzung ist für sie eine Tagesordnung festzusetzen;
4) von Bemerkungen außerhalb der Tagesordnung
darf der Präsident nur persönliche, nicht faktische
(d. h. nur die Person des Redners, nicht die Sache
berührende) zulassen und erst am Schluß der De-
batte oder bei Vertagung am Schlusse der Sitzung;
5) Vorkehrungen gegen zu viele Anfragen und In-
terpellationen (§6); nur auf die Tagesordnung der
Dienstag= und Freitagsitzung jeder Woche dürfen
Anfragen kommen und bloß die erste Stunde
darf darauf verwendet werden; Interpellationen
müssen von 30 Mitgliedern unterschrieben sein
und der RX kann die Verhandlungen über In-
terpellationen auf einen bestimmten woöchent-
lichen Sitzungstag beschränken, wenn unter der
Zahl der Interpellationen die ordnungsmäßige
Erledigung der Geschäfte leidet. 6) Anträge auf
Vertagung der Debatte (über einzelne oder alle
Gegenstände) sind von Eröffnung der Sitzung an,
also bereits vor Eröffnung der Debatte zulässig:
sie wie Anträge auf Schluß der Debatte dürfen
nicht begründet werden, auch eine Erörterung
über sie ist unstatthaft; endlich ist über sie — ge-
hörige Unterstützung (30 Unterschriften) voraus-
gesetzt — sofort abzustimmen; 7) Anträge auf