40
Selbstverwaltung (A. Wesen der Selbstverwaltung)
zu erteilen. Dem pouvoir municipal soll die Orts-
polizei, die ihm das Pluviosegesetz genommen
hatte, zurückgegeben werden. Auch diese Orts-
polizei, ausgehend von der Gemeinde, stehe unter
der surveillance der Regierung. Die Reformen
des Bürgerkönigtums, die mit dem Jahre 1831
anheben, gewähren nur teilweise das, was Henrion
de Pansey u. a. verlangt hatten. Aber damals
wurde die Rechtstechnik der Dezentrali-
sation und Staatsaufsicht über die
Kommune geschaffen, welche noch heutigen
Tags in Frankreich und beinahe allen Ländern des
europäischen Kontinents (Preußen) maßgebend
ist. Der nächste Schritt in derselben Richtung er-
folgte erst in Gesetzen der liberalen Epoche des
2. Kaisertums (von 1866 und 1867) und der 3.
Republik (von 1871 und 1884; Lugay, La Deé-
Centralisation, 1895, 73 A). Jetzt war es das
Problem, der Gemeinde einen großen Teil von
Verwükten zur eigenen Entscheidung zu über-
weisen, während der Rest vom Präfekten zu ge-
nehmigen war, ferner die Frage, ob nicht eine
„translation de la tutelle Communale“ von dem
Präfekten an die Generalräte durchführbar wäre.
In dieser Zeit der Dezentralisationsbestrebungen
entstand außer den Mitteln der Staatsaufsicht
(Beanstandung, Bestätigung, Zwangsetatisierung,
Supplierung des Willens widerstrebender Kom-
munalorgane durch den Willen der Staatsaufsicht)
die Anschauung, die dann auch in Deutschland und
besonders in Preußen Eingang fand, daß die
Staatsaufsicht über Kommunen teilweise
auch durch einen oder mehrere Staatsbe-
amte in Verbindung mit gewähl-
ten Staatsbürgern des betreffenden
höheren Verw Bezirks besorgt werden könnte. Das
ist die Lehre der Dezentralisation der Verwaltung
durch Heranziehung von Interessenten, wie sie
z. B. heute der preußische Bezirksausschuß betätigt.
3. Die dritte Wurzel der modernen Selbst Verw.
— Gneists Lehre vom englischen Self-
government — will die Abkehr Deutschlands
von dem französischen Vorbild durch Hinweis auf
das englische Selfgovernment herbeiführen. Das
letztere ist ihm der notwendige „Zwischenbau zwi-
schen Staat und Gesellschaft". Die englische
Selbst Verw ist „innere Landesverwaltung der
Kreise und Ortsgemeinden nach den Gesetzen des
Landes durch persönliche Ehrenämter unter Auf-
bringung der Kosten durch kommunale Grund-
steuer.“ Besteht diese Selbst Verw in der Verwal-
tung von Kommunalämtern, so heißt sie „wirt-
schaftliche“, ist sie Verwaltung von Ehrenämtern
soheißt sie „obrigkeitliche“ Selbst Verw. Man
ann diese Unterscheidung nur verstehen, wenn
man sich Gneists Ansicht von dem Verfall Englands
durch Heranziehung und Beteiligung vom Volke
gewählter Boards (Kollegien) an den Aufgaben
der Staatsverwaltung vergegenwärtigt. Denn
dann werde alles durch diese Boards nach Art von
Aufsichtsräten der Aktiengesellschaften — also wirt-
schaftlich und egoistisch — ausgeführt. Höheren
Wert habe dagegen nur die obrigkeitliche Selbst-
Verw, welche in ihrer Tätigkeit nicht nur Aus-
Übung von Rechten, sondern Erfüllung von
mitunter schweren Pflichten sei. Sie stehe
nicht, wie die durch die gewählten Boards geübte,
im Gegensatz zur Staatsverwaltung, sondern sei
ebenfalls Staatsverwaltung. Der einzige Gegen-
satz der obrigkeitlichen Selbst Verw sei nicht — wie
die konstitutionelle Doktrin annahm — die Staats-
verwaltung, sondern die „Ministerverwaltung“.
Gneists Darstellung des englischen Selfgovern-
ment war wegen der Betonung des Pflichtmo-
ments für Staatsbürger und Gemeinden in der
Betätigung der Selbst Verw, wegen der Hervor-
hebung des Satzes, daß Selbst Verw Staatsver-
waltung nur „nach Maßgabe der Gesetze" sei,
also nur im Zusammenhange mit der Ausbildung
von Rechtsstaat und VerwGerichtsbarkeit wirksam
bestehen könnte, von bleibendem Ein-
flusse auf die Gestaltung der preußi-
chen Verwaltungsorganisation
seit der KrO von 1872 geworden.
4. Die vierte Wurzel ist die Lehre von der
Genossenschaftshierarchie als Mittel
zur Zurückdrängung der Bureaukratie. Einer der
ersten Vertreter dieser Anschauung ist der Freiherr
vom Stein (Max Lehmann, Frhr. v. Stein, 1, 406;
2, 65 ff, und Anschütz, V f. d. preuß. St., 1912,
1. 4 ff). Schon in der Nassauer Denkschrift will
er die Bureaukratie und den „Mietlingsgeist“ be-
soldeter Diener durch eine umfassende Heran-
ziehung von Elementen aus dem nichtbeamteten
Volke zurückdrängen. Die Volksbeteiligung soll
in gewählten Repräsentanten zum Ausdruck kom-
men, und zwar als Hierarchie von Repräsentanten-
versammlungen: Gemeindevertretung, Kreistag,
Provinziallandtag. In dem sog. „„ppolitischen
Testament"“ fordert er als Krönung dieses Baues
eine „allgemeine Nationalrepräsentation“.
Die Anschauung, daß auf der Grundlage der
freien Gemeinde die Volksvertretung ausfgebaut
werden müßte, um das Volk zur Selbstregierung
zu erziehen, finden wir auch in der Art, wie ein
Mitarbeiter Steins, Vincke, die innere Verwaltung
Großbritanniens ansieht. Auf dem Unterbau der
friedensrichterlichen Tätigkeit erhebt sich das
Parlament als „diejenige Behörde, welche
das große Ganze der Verwaltung leitet“. (Dar-
stellung der inneren Verwaltung Großbritanniens,
1815, 94.) Auch sonst wird in der staatsrechtlichen.
Literatur Deutschlands der 20er und 30er Jahre
des 19. Jahrhunderts jener Zusammenhang zwi-
schen Einführung von Landständen und Reorgani-
sation der Gemeinden nachdrücklich hervorgehoben.
(S. z. B. W. v. Humboldt's Verfassungsideen bei
Paul Lenel, W. v. H. und die Anfänge der preuß.
Verfassung 1913, S. 113; ferner Malchus, Politik
der inneren Staatsverwaltung, 1823, 151; Reich-
hard, Historisch-politische Ansichten über die Staats-
verfassungen in Deutschland, 1830, 138 ff; Bü-
low, Die Behörden in Staat und Gemeinde,
1836, 304 ff.)
Der Gedanke, daß die freie Gemeindeverwal-
tung ihre notwendige Fortsetzung in einer Na-
tionalrepräsentation finden müsse, war von großer
politischer Kraft und Tragweite. Er half Preußen
aus einer absoluten Monarchie ein konstitutioneller
Staat werden. Auf ihn beriefen sich 1864 die
Männer, wie N. A. Miljutin u. a., welche Alexan-
der II. von Rußland bei Einrichtung der Selbst-
Verw des Semstwo berieten, aber auch Gegner
des Liberalismus, wie Katkow (Witte, Samoder--
schawvie i Semstwo, 1908, 66 ff). Auf ihn wiesen
die Männer hin, welche in Preußen die Reform
der inneren Verwaltung und besonders der Kreis-
ordnung aus dem Zusammenhang mit der kon-