Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Dritter Band. O bis Z. (3)

  
sehen, aber gerade in diesen Zeiten ergab sich 
der Nutzen daraus, daß der Herrscher selbst darauf 
verzichtete, der geistige Urheber der Kultur zu 
sein oder den Inhalt der Religion zu bestimmen. 
Die wahren und tiefsten Quellen von Religion 
und Kultur sind dunkel und nicht offiziell. 
IV. Von allem, was Religion und Kultur zur 
Quelle hat, ist eines für den St. das Unentbehr- 
lichste und von ihm auch das Meistbenutzte. Dieses 
Eine ist das Recht. Gerechtigkeit wurde ehe- 
mals als oberste Tugend der Könige gefeiert, ihre 
Uebung ist allgemein als Aufgabe des St. aner- 
kannt. Das Recht hat trotz aller Mängel, die ihm 
  
anhaften, solche Triumphe im Leben des St. ge- 
feiert, daß es nahe daran ist, statt der Macht als 
das Prinzip des St. anerkannt zu werden. Nicht 
immer floß es so reichlich wie in der Gesetzgebung 
der Gegenwart vom St. her und nicht immer 
mühte dieser sich so ernsthaft und umfassend um 
seine Pflege. Zu den größten Errungenschaften, 
welche das Recht im Kampfe mit dem St. ge- 
wann, gehören diese drei: daß erstens der Mensch 
des Rechtes fähige Persönlichkeit besitzt und der 
Leibeigenschaft nicht fähig ist, daß zweitens das 
Wort auch den Herrscher binde und daß drittens 
auch unter St. Beziehungen des Rechtes bestehen. 
Durch diese obersten Sätze des Rechtes ist auch die 
Macht des St. gebunden und zwar in allen Ge- 
bieten des öffentlichen und bürgerlichen Lebens. 
Sie sind nicht nur Recht in abstracto, ideales 
Recht, sondern sie sind Verfassungsrecht (Mdes St. 
Somit war auch dem Rechte gegenüber der St. 
nach der Lehre der Geschichte der empfangende 
Teil. Der St. ist durch seine Verbindung mit dem 
Recht zum St. erst geworden. Staaten ohne Recht 
sind Länder, Völker, rein ethnographische Be- 
griffe. Das Recht ist die älteste Kulturtat am St.; 
Könige wurden aus den Häuptlingen erst durch 
das Königsrecht und Republiken, die sich des 
Rechtes zu entledigen suchen, halten nicht Stand. 
Der St. hat den gemeinen Nutzen des Rechtes 
so gründlich erkannt, daß er ihm seine Gewalt in 
Gesetzgebung, Gerichten und Vollziehung weitest- 
gehend zur Verfügung stellt, so weit, daß die 
Strenge des Rechtes sprichwörtlich geworden ist 
und einer Milderung auf dem Wege der Gnade 
bedarf [Begnadigung]. Daß aber die Gewalt 
des St. das Recht nicht seiner innersten heilenden 
und versöhnenden Natur entkleide, darüber zu 
wachen, ist und bleibt eine Aufgabe, die durch 
staatliche Mittel allein nicht erfüllt werden kann, 
sie fällt der vom Willen des St. unabhängigen 
Wissenschaft des Rechtes zu. 
V. Dem Wesen des St. fremd und ihm bewußt 
entgegengesetzt ist der Anarchismus, der, 
soweit er nicht reines Verbrechertum ist, als 
Nichtstaatslehre (Nihilismus) nicht in das Gebiet 
wissenschaftlicher Staatslehre, sondern in das- 
jenige der Völkerpsychologie, je nachdem auch der 
Pathologie gehört. Er tritt zwar literarisch als 
Kritik des Staates auf, geht aber in der Regel 
vor Vollendung seiner kritischen Aufgabe in die 
Tat über und dadurch am Staat selbst unter. 
Seine Quelle hat der Anarchismus in den Theo- 
rien und Praktiken der absoluten Staatsformen, 
indem er in einer natürlichen Reaktion gegen 
  
—— — — 
  
Despotismus wurzelt, dann aber aus Mangel 
an kritischer Folgerichtigkeit in jeder Form staat- 
licher Gewalt das absolute Machtprinzip sich kund- 
— —— — — 
Staat und Staatswissenschaften 
geben sieht und dem wilden Zustand den Vor- 
zug vor dem staatlichen gibt. Auch mit religiösen 
Vorstellungen verbindet er sich, um einer gegen den 
Staat gerichteten Konspiration höhere Weihe bei- 
zulegen. Die Anarchie als Begleiterscheinung von 
Revolutionen ist der Zustand vorübergehender 
Staatlosigkeit. (Ueber einige theoretische und 
praktische Anarchisten vgl. Sacher in Bachems 
Staatslexikon“: 1, 233 ff.) 
Literatur: G. Jellinek, Allgemeine Staats- 
lehres, 1905; v. Seydel, Grundzüge einer allgemeinen 
Staatslehre, 1873; Derselbe, Bayer. Staatsrechte, 
1896; H. Rehm, Allgemeine Staatslehre, 1899; Hat- 
schek, Allgemeines Staatsrecht, 1910; E. Löning, 
Art. „Staat" im Ö9W Staats W. 7, 692 ff (1911); N. 
Schmidt, Allgemeine Staatslehre, 1901, 1908; La- 
band" Bod. 1, 1911; Auschütz in Kohlers Enzyklopädie 
der Rechtswissenschaft 2, 451 ff Seidler, Das Kri- 
terium des GStaates, 1905 Gumplowis, Allg. Staats- 
recht, 1908; Treitschke, Politik, 1898; Jakob Burch- 
hardt, weltgeschichtliche Betrachtungen (hrsg. v. J. 
Oeri), 1905; Piloty, Autorität und Staatsgewalt, 
1905; H. Michel, Tidée de Etat, 1896: Duguit, 
Etudes de drolt public 1901, 1903; Abolf Menzel 
im H# der Polir#ik 1, 35 ff (1912); F. Oppenheimer, 
„Der Staat“, 1900; Kelsen, Hauptprobleme der 
Staatsrechtslehre, 1911, dazu Tehner im uArch Deff 
28, 325; Das Sammelwerk: Das Oeffentliche Recht der 
Gegenwart von Jellinek, Laband, Huber und 
Piloty, bis 1913 Bd. 1—21; Jahrbuch des Oeff. Rechts. 
von denselben, bis 1913, Bd. 1—7; 83 für Politik von N. 
Schmidt und A. Grabowski; Sn der Politik von 
Laband, Berolzheimer u. a., 1912; Annalen, 
begr. v. HOirth und Seydel, hrsg. von Cheberg 
und Dyroff. 7 Politik. —— 
B. Staatswissenschaften 
* 1. Name. 3 2. Geschichte. # 3. Philosophisches Kri- 
terium. 1 4. Literatur. 
+ 1. Name. Als St. Wissenschaft wird jede 
Forschung bezeichnet, welche irgend eine Seite 
des St. zum Gegenstand der Erkenntnis nach 
wissenschaftlicher Methode genommen hat, mag 
die Methode die sammelnde, berichtende, dar- 
stellende oder die kritische sein, mag der Gegen- 
stand der St. überhaupt oder ein bestimmter St., 
mag es der St. in seinem Werden und Vergehen, 
also die St. Geschichte, oder der St. in seiner 
räumlichen Erscheinung, also die St. Geographie, 
oder mag es das Recht oder die Wirtschaft des 
St. sein, mögen es die natürlichen Grundlagen, 
Land und Volk, oder der St. als Macht oder als 
Begriff oder die St. Kunst sein. Eine St. Wissen- 
schaft schlechthin, d. h. eine Wissenschaft, die den 
St. überhaupt und zugleich jeden St. und jede 
Seite des St. zum Gegenstand hätte, gab es nie 
und gibt es nur in demselben Sinn wie es eine 
Wissenschaft vom Menschen (Anthropologie) über- 
haupt gibt. Die St.Wissenschaft schlechthin ist 
nichts anderes als die Summe der St. Wissen- 
schaften: denn die Wissenschaften sondern sich 
nach dem Gegenstande, und nur durch Gemein- 
samkeit ihrer Methoden können sie sich als Ein-
	        
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