Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Dritter Band. O bis Z. (3)

  
B. Staatswissenschaften 
  
heiten darstellen, der St. aber ist ebensowenig 
wie der Mensch nach einheitlicher Methode er- 
forschlich. 
Daher kommt es, daß die Gleiches bedeutenden 
Bezeichnungen Staatswissenschaft, Politik (JU#I, 
St. Lehre in Wirklichkeit für Verschiedenerlei ge- 
braucht werden, jede von ihnen nur für einen 
Teil von dem, was sie dem Wortsinne nach an- 
geben: St. Wissenschaft oft für Volkswirtschaft, 
Einanzwissenschaft und Statistik, Politik für St.= 
Kunstlehre, St. Lehre für St. Machtlehre. Auch 
in anderem Sinn werden und wurden diese Be- 
zeichnungen gebraucht. Politik und St. Lehre 
wurden bis ins 19. Jahrhundert gleichbedeutend 
Lgebraucht und zwar so, daß sie jeweils alles, was 
man vom St. zu wissen glaubte, von der St. Kunst 
und der St. Macht, der Statistik und der St. Geo- 
graphie, dem St. Begriff und dem St. Recht in 
sich zu fassen versuchten, um das Wesen des St. zu 
erkennen. 
2. Geschichte der Staatswissenschaften. 
Politik (I(= Staatslehre) suchte zuerst das Wesen 
des St. darzulegen. Solange sie darauf ausging, 
war sie nicht Wissenschaft im heute gebräuchlichen 
Sinn, sondern Teil der Philosophie oder der 
Theologie, die sich bald gemeinsam, bald getrennt 
zu solcher Erkenntnis berufen glaubten. Die 
Geschichte der St. Wissenschaften beginnt erst mit 
der Sonderung von Philosophie und Theologie 
und damit, daß nicht mehr eine St. Wissen- 
schaft den St. überhaupt, sondern viele 
St. Wissenschaften den St. von allen Seiten her 
erforschen. Den Anstoß zu dieser Sonderung 
gaben die Naturwissenschaften, die es zuerst unter- 
nahmen, den Dingen eine andere als die nach dem 
theologisch dogmatischen Schöpfungsplane mut- 
maßlich gewollte und durch Offenbarung ver- 
mittelte Erklärung zu geben. 
Mit diesem allmählichen Ablösungsprozeß der 
Wissenschaften überhaupt, der St. Wissenschaften 
insbesondere, geht parallel jene monistisch empi- 
xische Richtung der Philosophie, die unter den 
mannigfaltigsten Bezeichnungen und Wandlungen 
den Materialismus der Gegenwart hervorgebracht, 
das Entwicklungsgesetz an die Stelle der Schöp- 
fungsidee gesetzt, die Wissenschaften in die beiden 
Gebiete der Natur und Geisteswissenschaften 
zerlegt und den letzteren neben der Religions- 
wissenschaft, Theologie u. a. auch die St. Wissen- 
schaften zugeteilt hat. 
Im Altertum stehen sich drei geistige Welten 
wesentlich unvermittelt gegenüber, die jüdische, 
die griechische und die römische. Die theosophisch- 
individualistische jüdische Geisteswelt hat für die 
Ausbildung von St. Wissenschaften zunächst keinen 
Boden geliefert, sie wurde erst in ihrer Umprä- 
Zung als Christentum auch im St. bildnerisch und 
zwar anfangs mit staatsfeindlicher Tendenz, 
später in der überstaatlichen Herrschaftsform der 
Kirche. Die griechische St. Lehre hat nach jener 
wundersamen Periode religiös-künstlerischer Ge- 
staltung (Homer) ihren festen Platz in der Philo- 
sophie gefunden, wo sie besonders bei Sokrates 
und Plato noch einen Bestandteil, bei Aristoteles 
schon ein Gegenstück der Ethik ausmacht. Hier 
zeigt sie schon die Neigung Wissenschaft zu werden 
und sogar als St. Rechtswissenschaft eine beson- 
dere Abgrenzung zu suchen. Aber neben den 
ethischen Gedanken über St. Prinzipien pflegt sie 
  
  
v. Stengel--Fleischmann, Wörterbuch. 2. Aufl. 
  
wesentlich nur die St. Kunstlehre und in dieser 
wieder vorwiegend die Theorie der besten Ver- 
fassung (#Politikl. 
Im republikanischen Rom kann man 
einen Beginn der St. Wissenschaften neben der sa- 
kralpolitischen St. Praxis höchstens in Gestalt der 
Ueberlieferungspflege nachweisen, der die Ge- 
schichtschreibung und die Aufzeichnung der Staats- 
männer (Annalen) dienen. Diese Ueberlieferungs- 
pflege steht unter dem Zeichen der Vorstellung, 
daß, was ehemals galt, immer gilt. Es ist Wissen- 
schaft der St. Praxis, durchaus unphilosophisch; 
der St. ist die Tatsache schlechthin und theorie- 
feindlich. Im hellenistischen Zeitalter ist es die 
Stoa und ist es vor allem Polybius, wodurch eine 
St. Lehre, die nicht selbst Praxis ist, Eingang fin- 
det. In Cicero vollendet sich die Hellenisierung 
Roms und wird die Republik Objekt der Wissen- 
schaft im Banne griechisch-philosophischer Ethik, 
ein Bann, dem das Kaisertum sich wieder entzog. 
Inzwischen aber sog das paulinische Christentum 
alles wissenschaftliche Denken an sich und pflanzte 
in Rom, antike Elemente zusagender Art, nament- 
lich ethische, in sich aufnehmend, den Geist der 
jüdischen Theokratie und mit ihm auch jene Kritik 
des Heidentums, die in Augustins Lehre vom 
geoffenbarten Gottesstaat und Gottesrecht den 
Grundstein zur christlichen Universalkirche legte. 
Damit war für ein langes Zeitalter die Wissen- 
schaft vom St. in Bann getan und an ihre Stelle 
die christliche Philosophie gesetzt, deren geistiger 
Oberhoheit auch der byzantinische Hellenismus 
im Grunde nicht Stand hielt. 
Das Mittelaltet, so bildsam das politische 
Leben selbst gerade in dieser Zeit war, brachte doch 
eigentlich keine selbständige St. Wissenschaft hervor. 
Die ganze geistige Kraft des Zeitalters schien sich in 
der Konstituierung einer Weltherrschaft erschöpfen 
zu wollen. Bis ins 12. Jahrhundert überwiegt 
der Augustinische Deismus als transzendentale 
Machttheorie, der praktische Kirchenstaat nach 
dem Vorbilde des theoretischen Gottesstaates 
(Johannes von Salisbury). Dieser philosophisch- 
theologischen St. Lehre ist auch die kanonistische 
Jurisprudenz durchaus dienstbar, während die 
weltlich gearteten Lehren Mangolds von Lauter- 
bach und des Irnerius, jene im germanischen, 
diese im romanischen Geiste sich bemühten, die 
Grundlagen positiver St. Rechtslehre auf histo- 
rische Quellen zurückzuführen. Alles ist auf den 
großen Streit um das Verhältnis von Kaiser und 
Papst orientiert und bleibt es auch, als im späte- 
ren Mittelalter das Studium des Aristoteles neu 
einsetzte. Zu klarer Scheidung der obersten Be- 
griffe gelangte Thomas von Aquin mit der Tren- 
nung von jus divinum und jus naturale. Einer 
positiven St. Rechtslehre aber näherten sich erst 
Lupold von Bebenburg (1 1363), Marsilius von 
Padua (1 1343), Aeneas Sylvius (7 1464), 
Nikolaus von Cues (7 1464), Peter von Andlau 
(1 1480), Nicolo Machhiavelli (1 1527), mit denen 
die St. Lehre im Geiste des Humanismus an die 
Wirklichkeit des Lebens anzuknüpfen beginnt. 
„Während die bislang genannten Schriftsteller 
sich systematisch in der Hauptsache lediglich mit 
der Frage nach dem Träger und dem Erwerb des 
Imperiums beschäftigt haben, ist es Aeneas 
Sylvius, der zum erstenmale auch Wesen und 
Inhalt des Imperiums dogmatisch zusammenfaßt“ 
III. 30
	        
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