Staatsanwaltschaft
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§# 2. Geschichte. Das Staatsinteresse an der
Geltendmachung des Strafrechts fand schon stets
Vertretung, in Rom wie im altdeutschen Verfah-
ren. Aber die Einrichtungen dazu hielten sich
nicht (Sendboten, Fehmgerichte, öffentliche An-
kläger, Fiskale). Im 19. Jahrhundert verlangte
die Reformbewegung Aufstellung einer eigenen
Strafverfolgungsbehörde, um den Richter un-
parteiischer zu stellen, zuerst unklar, dann immer
bestimmter. Vorbild war der französische Prozeß
des Code d'’Instruction Criminelle v. 25. 12. 1808
mit seinem „ministere publio“. Dies hatte sich
aus den procureurs du roi entwickelt, die seit
1300 zuerst mehr die fiskalischen Interessen, dann
seit dem 16. Jahrhundert wesentlich die strafrecht-
lichen neben dem Richter vertraten. Napoleon
benützte das Institut der Strafverfolgung sehr
geschickt als „Gesetzeswächterin“, d. h. zur Aufsicht
über Richter und Gerichte. Die Organisation der
französischen St. (Gv. 20. 4. 1810) ist bis heute
ziemlich unverändert.
In Deutschland entwickelte sich die St. aus
dem Richteramt zuerst nur als Anklägerin in der
Schlußverhandlung (Württemberg 1843) oder
neben der richterlichen Untersuchung (Baden.
1845), dann als selbständige Verfolgungsbehörde,
im badischen Preßgesetz 1831, besonders aber im
preußischen G v. 17. 7. 46 über die Polenprozesse
nach Savignys Prinzipien. Dies ist noch heute
die Grundlage unserer Einrichtung, fortentwickelt
in der V v. 3. 1. 49 und dem G v. 3. 5. 52. Nach
1848 nahmen alle Staaten bis auf 4 kleine den
französischen Prozeß mit der St. an (Staats-
behörde, öffentlicher Ankläger, Staatsprokurator,
Kronanwalt in Hannover 1839), zum Teil nur für
Schwurgerichtssachen. Dabei trat der Gedanke
der Gesetzeswächterschaft zurück, am wenigsten
in Preußen und Hannover. — Die verwaltungs-
mäßige Abhängigkeit der St. von der Regierung
führte zu Mißtrauen, zu einer Einengung ihrer
Tätigkeit im Vorverfahren und zu Rreformvor-
schlägen, bes. dem übertriebenen der richterlichen
Unabhängigkeit (Sundelin, v. Holtzendorff). Auch
heute noch besteht das Mißtrauen, daher einige
sie verkehrterweise ganz der Polizei angliedern
wollen; sie hat aber eine große Bedeutung,
praktisch eine freie, führende Stellung. — Die
St PO v. 1. 2. 77 schloß sich der Entwicklung an.
Seitdem ist die St. als Behörde und Prozeßorgan
unverändert geblieben (auch im Entwurf 1908/11).
5 3. Die Organisation.
I. GBS 5 142—153 gibt nur die wichtigsten
Normativbestimmungen; daher können die Ein-
zelstaaten viele Einzelheiten der Organisation
verschieden gestalten und auch der St. manche
besondere Aufgabe zuweisen. — St. bedeutet
eine besondere Behörde oder die Amtsaufgabe
der Strafverfolgung (so z. B. im Reichsbeamten G
8 85). „Staatsanwaltschaft eines Gerichts“ ist
eine Abteilung der Behörde. Die Beamten der
St. sind der Oberreichsanwalt und Reichsanwälte
beim Reichsgericht (Reichsbehörde), Staatsan-
wälte bei Land-, Oberlandesgericht und bayr.
Oberstem Landesgericht, Amtsanwälte (früher
„Polizeianwälte") bei Amtsgerichten (Landes-
behörden).
Die St. ist nach französischem Muster nach
GVG 145—148 in sich einheitlich (un et
indivisible), bureaukratisch gegliedert im Reich
unter dem Reichskanzler und in jedem Einzelstaat
(trotz Gemeinschaftsgerichten wie z. B. in Jena)
unter dem Justizministerium, — ferner bei jedem
Gericht unter dem ersten Beamten (Ober= oder
Generalstaatsanwalt bei Oberlandesgerichten und
bayr. oberstem Landesgerichte, — Erster oder
Oberstaatsanwalt bei Landgerichten), so daß
jeder Beamte den ersten vertritt, der Oberbeamte
in seinem Sprengel jeden unteren beliebig selbst
vertreten und in einzelnen Tätigkeiten durch
jeden andern ersetzen kann (Devolutions= und
Substitutionsrecht, das aber nicht dem Justiz-
minister zusteht, GWG &+ 146 — AM Rt
44, 76, und das nicht innerhalb der Amtsanwalt-
schaft gilt). Der Oberreichsanwalt hat ein An-
ordnungsrecht gegenüber den Landes St. nur bei
Zuständigkeitsstreit (GVG &6.144 Abs. 2) und bei
reichsgerichtlicher Strafverfolgung (GVG 5147 II).
Daher können die oberen Stellen den unteren
Anweisungen in einzelnen Fällen und allgemeiner
Natur geben, z. B. über Gesetzauslegung (bestr. ),
aber nicht in Beweiswürdigungen, natürlich auch
nicht eine unrechte Handlung zu begehen, wohl
aber eine Verfolgung zu unterlassen. —
Die Einheit und Unterordnung ist besonders
stark in Frankreich und in Preußen ausgebildet.
III. Als Behörde ist die St. den Gerichten
gleichgeordnet; sie darf keine richterlichen Ge-
schäfte wahrnehmen und besonders keine Dienst-
aufsicht über die Richter ausüben, GVG F( 152 (in
VerwGerichten könnte ein Staatsanwalt wohl
Richter sein); sie soll nach GVG 8 151 „in ihren
Amtsverrichtungen von den Gerichten unab-
hängig“" sein, was aber nach St PO 5¾ 170 ff, 206
nicht gilt. Im Prozeß hat sie Parteistellung;
sie entscheidet nicht und ist der Sitzungspolizei [M
unterworfen (bestr.)
III. Polizei und Gendarmerie
(K daselbst!) sind zwar Hilfsorgane der St. und
verpflichtet ihren Anordnungen nachzukommen,
GVG F 153, St PO SF 159, 161. Aber als Be-
hörden stehen sie selbständig, so daß oft ein Dualis-
mus in die Verfolgung kommt. Landesgesetz-
lich sind nur einzelne Beamte der St. besonders
untergeordnet, sog. Kriminalpolizei [AI, vor allem
in Baden.
IV. Alle Reichs= und Staatsanwälte müssen
Richterbefähigung haben, GVG FP149,
nicht auch die Amtsanwälte, die daher als solche
auch auf die Amtsgerichte beschränkt sind. Für sie
gibt es sehr verschiedene Systeme. In Preußen
(und Elsaß-Lothringen) sind sie vielfach juristische
Laien, Unterbeamte, mehrfach unter der Leitung
eines Staatsanwalts; in Sachsen, Württemberg,
Baden, Hessen, Hamburg und anderswo sind sie
fast ausnahmslos Assessoren (was das allein rich-
tige). Im rechtsrheinischen Bayern waren sie
bis zur V v. 21. 9. 12 den Verw Behörden ange-
gliedert (so noch in München). Oft besorgen die
St. auch die Geschäfte des Amtsanwalts. Die
Amtsanwaltschaften sind mehr oder weniger be-
hördlich selbständig, jenes z. B. in Preußen; in
Baden sind sie völlig mit der St. verbunden. —
Die deutsche St PO kennt keine Ausschließung
oder Ablehnung der Beamten der Staatsanwalt-
schaft. [Oesterreich kennt die Ausschließung.)
V. Alle Reichsanwälte werden vom Kaiser
ernannt; alle andern Beamten der St. sind Lan-
desbeamte (Amtsanwälte zum Teil vom Justiz-