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Staatsromane
mächtiger Kuppel. Ein Priesterfürst Sol regiert
mit drei modernen Fach Ministern Pon, Sin, Mor
(potestas, sapientia, amor — Macht, Weisheit,
Liebe). Grundlage der Gesellschaft ist die Ge-
meinschaft — es gibt nicht eigene Wohnung, nicht
eigene Weiber, nicht eigene Kinder — Minister Mor
unter Assistenz eines magister generationis und
Astrologen bestimmt die Paare und die Stunde
der Paarung. Der Unterricht ist Anschauungs-
unterricht, die Wände der Stadt sind Bilderat-
lanten (vorahnend die Berliner Siegesallee und
den Denkmalsplatz in Paduo). Normalarbeitszeit:
4 Stunden, Mahlzeiten gemeinsam, Küchenzettel
amtlich, Beamte sind zugleich Beichtväter, jedes
Jahr einmal große Ohrenbeichte, bis aus der
Kuppel des Tempels ein Priester die Sühne von
oben bringt. Campanellas Ideal ist in merkwür-
diger Weise in dem Jesuitenstaat in Paraguay ver-
wirklicht worden (s. u. § 7). Offenbar in sittlicher
Entrüstung über die durchaus phantastischen Vor-
schläge, die nur im Gedankenkreis des sinnlichen
südlichen Mönches und des Klosterkommunismus
erwachsen konnten, hat ein biederer schwäbischer
Pfarrer Valentin Andreae eine repu-
blica Cbristianopolitana 1619 beschrieben, die
sich zu Campanellas Sonnenstaat verhält, wie
Vaihingen a. d. Enz zu Rom. Es ist ein Werk,
Vorzüglichkeit des Staats auf den trefflichen
das mehr als die Verfassung das christlich-religiöse
Leben nach evangelischer Auffassung betont, in
100 kurzen Kapiteln, etwas lehrhaft und schlicht,
aber sehr moralisch.
3. Aus der Keit deb Wohlfahrtsstaats. Das
folgende Jahrhundert zeigt uns, daß die Dichtungs-
art der St. mehr Anklang findet. In England ver-
sucht sich selbst Baco v. Verulam, der aller-
dings nur ein Bruchstück „Nova Atlantis“ hinter-
lassen hat, werin eine Zentralisation des wissen-
schaftlichen Apparats die Hauptsache ist. Am um-
fangreichsten ist der St. von Harrington:
Oeoeana, die Cromwell zugeeignet ist und unter
zahlreichen Illustrationen ein höchst verwickeltes
Wahlsystem darstellt: der ganze Staat ist nach dem
Grundsatz repräsentativer Demokratie ausgebaut:
Wahl und Wechsel der Beamten sollen das Ideal
sein. Viel romanhafter ist Vairasses Histoire
des Sevarambes in 5 Bänden 1677, worin uns
das ferne Land Sevarambien in allen Einzelheiten,
seine Geschichte, seine Sprache usw. anziehend
beschrieben werden, und fast in das Gebiet des
Märchens führt uns Sadeur in seinen Aventures,
da das Glück des von ihm geschilderten Volks
darauf beruht, daß dessen Bewohner Mann und
Weib in einer Person sind! 1699 erscheint das
erste Werk dieser Art in deutscher Sprache, das
Königreich Ophir. Hier wird uns von
einem ungenannten Verfasser ein Verwaltungs-
ideal vorgeführt wie es der Zeit des werdenden
Wohlfahrts= und Polizeistaats entspricht. Das
Königreich Ophir ist für den, der Verwal-
tung und Verwfecht studiert, vielleicht der
interessanteste St. (wahrscheinlich ist nur noch ein
Exemplar, in Leipzig, vorhanden). Hier wird
uns das Staatsideal gezeichnet, wie es von der
beginnenden Rechtsphilosophie vorbereitet und
z. B. von Christian Wolff in seinen „Vernünftigen
Gedanken vom gemeinen Wesen“, jener vielbän-
digen ersten Verwoehre, ausgestaltet wurde. Sehr
vernünftige Gedanken, aber staatliche Kontrolle
überall: Verbot der gemischten Ehen, Gehalts-
abzug für Kollegaussetzen, professores morum
und ceconomicus, gute Erziehung des Monarchen,
Statistik, Staffelung der Strafen, strenge Sonn-
tagsfeier, Judengesetze, Ordnung von Handel und
Gewerbe, Beschränkung der Schankwirtschaften,
genaues Militär-, Finanz= und Prozeßrecht, sym-
bolisch-humoristische Bestrafung des Duells usw.;
kurz weniger eine Verf Aenderung bringt das
Glück, es ist da wo die Bürger tugendhaft und
christlich sind, und dies mit zu bewirken ist Aufgabe
des Staats. Das aber gerade ist das Wertvolle an
diesem Werk, daß keine grundstürzende Umgestal-
tung erfolgt, sondern das Bestehende als Grund-
lage genommen und darin eine innerliche Besse-
rung versucht wird. In der Literaturgeschichte des
deutschen VerwzRechts ist dies Ophir von hervor-
ragender Bedeutung, jedenfalls ist es entstanden
im Kreise der neugegründeten Universität Halle
und gibt ein Bild von den damals achtungsvollen
kühnen Theorien des Wohlfahrtsstaats, über die
zusi nicht wegen ihrer späteren Ausartung spotten
en.
4. Biographien und Fürstenspiegel. Eine
neue Gattung von St. taucht in der Glanzzeit der
französischen Literatur auf, die St. in Form der
Biographie. Auch sie knüpft an das Altertum an,
an TZenophons Cyropädie. Wie in dieser die
Cyrus, ein wohlgcordnetes Hofleben, Anstand und
Dankbarkeit gegründet wird, so haben eine Reihe
von Schriftstellern von Anton le Grands Skydro-
media (1680) bis zu Albrecht von Hallers lang-
weiligen Romanen (Alfred 1774 usw.) Ideale von
Monarchen entwerfen. Das verbreitetste Werk
dieser Gattung ist Fénôölons Telemach,
das nicht nur in seinem 10. Buche eine regelrechte
Utopie enthält (das Königreich Salent), sondern
das im einzelnen ausmalt wie das Glück der
Völker auf der Tugend der Herrscher beruhe und
das in meisterhafter Weise die Aufgaben des Für-
sten kennzeichnet. Vielleicht noch bedeutender ist.
Terrassons Sethos 1732, eine großartige
Schilderung des Lebens eines Königssohnes und
altägyptischer Einrichtungen, und damit zugleich
ein Vorbild der ägyptologischen Romane (Ebers).
Diese Romance sind von nicht zu unterschätzender
Bedeutung; es war die Zeit, da sich alles auf die
absolute Gewalt und die Person ihres Trägers
konzentrierte und überdies ist erwiesen, daß z. B.
Friedrich der Große diese Werke studiert hat. Die
Ideenverbindung zwischen ihren Anregungen und
dem Worte des großen Königs, daß er der „erste
Diener“ seines Staats sei, ist unverkennbar.
*# 5. Die Aufklärungsperiode. Eine Zeitlang
tritt die Gattung der St. zurück. Das Ende des
17. und der Anfang des 18. Jahrhunderts ist die
Blütezeit der Reiseromane und Robinsonnaden,
die doch in einem gewissen Zusammenhang hiemit
stehen. Ob Cyranos de Bergerac états de la lune.
oder Schnabels „Felsenburg" (1731/43) —schließlich
sind es doch auch paradiesische Zustände, Phan-
tasiestaaten, die hier oft bis ins Kleinste ausgemalt
werden. Als bedeutendstes Werk dieser Art darf
hier nicht Gullivers Reisen von Swift, sondern
des dänischen Lustspieldichters B. Holbergs
unterirdische Reise (iter subterraneum 1741) ge-
nannt werden, dic an grotesker Komik mit tiefem
Sinn schier unerschöpflich scheint — die schwer-
fälligen Baummenschen, das neuerungssüchtige