Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Dritter Band. O bis Z. (3)

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Staatsromane 
  
kunftsbild unter Verwertung von Campanella 
und allen andern. Immer neue Zweige treibt 
der Baum dieser Literatur: Aria, Das Reich des 
ewigen Feindes schildert Henne am Rhyn und 
„Das Reich Judaea i. J. 6000“, ein ideales Ju- 
denreich in Palästina Osterberg-Verakoff (1893). 
Faulhabers Buch „Das goldene Zeitalter“ er- 
neut in schwäbischer Breite (1896) Andreaesche 
Ideale und P. Mantegazza führt uns mit Geist 
den Zustand „im Jahre 3000“ (deutsch 1898) vor. 
Bellamy ergreift schließlich nochmals das Wort 
in „Equality“ (1898) zur Begründung seiner An- 
schauungen und zur Lösung der sozialen Frage ½). 
Dazu treten neuerdings, was man utopistische 
Novellen nennen könnte, Phantastereien über 
technische u. a. Einzelheiten (z. B. Severus, 
Ein Duell i. J. 2000, 1897) und vor allem natur- 
wissenschaftliche und Marsromane (Kurt Laßwitz, 
Zukunftsnovellen; Auf 2 Planeten) und ferner 
die an unser Gebiet angrenzenden Schriften, die 
den Zukunftskrieg, zur See und in den Lüften, schil- 
dern. Ja selbst Dramen und Scherzspiele (Braeu- 
nert, i. J. 2120, 1905, Das dritte Reich v. P. Fried- 
rich, M. Halbes tausendjähriges Reich, Holländer 
Operette „Der Sonnenvogel“, W. Fuldas Schlaraf- 
fenland) berühren sich mit unseren Staatsromanen. 
6 9.lKritisches. Keineswegs alle St. konnten 
hier angeführt werden. Und doch schon die ge- 
nannten beweisen zur Genüge, wie außerordent- 
lich reich die menschliche Phantasie, die ewig be- 
wegliche immer neue, oft seltsame Tochter Jovis! 
Die Sehnsucht nach Glück, nach dem besten Staate, 
nach einem goldenen Zeitalter „der Söldner und 
Steuern entbehrend“, sei es nach einem Urzustand 
am Anufang, sei es nach einem tausendjährigen 
Reich am Ende der Zeiten — das ist das Leit- 
motiv aller dieser Werke. Ihr Wert beruht mehr 
in der Anregung der Unzufriedenheit, die eine 
  
Triebfeder des Fortschritts ist, als in den positiven 
Vorschlägen, denen gegenüber einige Skepsis am 
Platze ist. Hinsichtlich des Staatsrechts 
dieser Zukunftsstaaten wird nicht allzuviel gebo- 
ten: vorzügliche Monarchen oder durchgebildete 
repräsentative Demokratie, darauf kommts ge- 
wöhnlich hinaus. Aber Listenskrutinium u. dgl. 
sind kein Gegenstand der Dichtung, wie Harring- 
tons Einzelheiten zur Genüge beweisen. Das 
Eherecht ist meistens nach den Grundsätzen 
rationaler Viehzucht geregelt und wir müssen 
gegenüber den z. T. zynischen Idealen höchst vor- 
sichtig sein in einer Zeit, wo freie Liebe und 
Rassenveredlung oft in sehr unlogischen Zusam- 
menhang gebracht werden. Das Erziehungs- 
recht des Zukunftsstaats und die Ausbildung der 
Ingend sind im wesentlichen kommunistisch. Auf 
das Gebiet der wirtschaftlichen Fragen führen 
uns zahlreiche Phantasien, besonders in den 
neueren Schriften. Verteilung der Arbeit, Ver- 
kürzung der Arbeitszeit, Beteiligung am Gewinn 
(lauch am Verlustv!), Güterteilung und Güter- 
gleichheit — das sind die ewig wiederkehrenden 
Forderungen. Alles Privateigentum ist verderb- 
lich — das ist die ewige Melodie. Daß die Aus- 
bildung des Privateigentums der mächtigste Hebel 
*) Nicht zu vergessen Bertha v. Suttner, Dos Ma- 
schinenzeitalter, Zukunftsvorlesungen über unsere Zeit von 
Jemand (anonym Zürich 1886, erst 3. Aufl. 1896 mit Namen). 
Frauenirage: R. Boigt, Anno Domini2000 ((1909). D. H. 
  
  
  
der Entwicklung wird durchweg verkannt. Auch in 
bezug auf Handel und Geldverkehr ist vieles 
phantastisch und unklar. Wenn auf dem Mars 
mit „Alexandrinern“, mit Versen bezahlt wird 
und bei Bellamy durch Kreditkarte, so ist das 
eben auch „Geld“ — allgemeiner Wertmesser — 
das ist Wortstreit. Nur eines sei noch hervorgeho- 
ben, weil es fast überall als Ideal hingestellt ist: 
die Unterdrückung jeglicher freien Meinungs- 
äußerung. Das ist das Wesentliche, das ist der 
entscheidende Punkt. Ein irdisches Paradies mit 
allem Komfort der Neuzeit wird vorgezaubert, 
aber immer wird die Freiheit der Gleichheit ge- 
opfert. Wer anderer Meinung ist als die Herr- 
schenden, der wird (bei Morelly) lebendig begraben. 
Es gibt nur offizielle Geschichte, offizielle Wissen- 
schaft, offizielle Presse. Der Zukunftsstaat gleicht 
einem großen Zguchthaus mit der gleichen Le- 
bensführung, der Verteilung der Arbeitsprodukte 
usw. In den St. treffen sich die Gedankenreihen 
eines mittelalterlichen Klosterkommunismus und 
scholastischen Geisteszwanges mit den altisraeliti- 
schen kommunistischen Einrichtungen (Jubeljahr 
usw.) und den halb alttestamentlich halb juden- 
christlichen Träumen des Chiliasmus, der bis in 
die Gegenwart Anhänger hat, aber freilich der 
Menschheit zur Erreichung ihres Ideals z. T. noch 
Zeit bis zum Jahr 25920 läßt! Auch unsere Zeit 
mit ihrer Fülle sozialer Gesetze beweist es wie alle 
Zeiten, daß Gesetze und Einrichtungen und Ver- 
fassungen zwar nicht entbehrlich sind, daß sie aber 
dem „besten Staate"“ nur wenig näher bringen, 
wenn nicht zugleich eine tüchtige Ge- 
sinnung, Bürgertugend und Sittlichkeit entwickelt, 
die Formen der Freiheit, die geschaffen sind, von 
einem gewissensernsten, innerlich tüchtigen Volk 
mit heilsamem Inhalt ausgefüllt werden. 
Literatur: Nachdem R. v. Mohl, Gesch. und 
Literatur d. Staatswissensch. (1853) 1 167 und Klein- 
wächter, Die St., eine Uebersicht, sowie Sudre, 
Geschichte des Kommunismus (Uebers. 1882) eine Kritik 
geboten, wurde 1892 die „Schlaraffia politica“. 
anonym veröffentlicht, die die vollständigste Geschichte der 
Dichtungen vom besten Staate gibt. Französisch erschienen 
als: L'’éternelle Utople von v. Kirchenheim, 1397 
(übers. v. Chazaud des Grangers). Val. Allg. 8 1898 Nr. 108. 
Dazu 3 für Sosialwissensch. (v. Wolff) 1, 567. Die spätere 
Literatur, soweit möglich war, im Texte.). v. Kürchenheim. 
!) Brasch, Sozialistische Phantasiestaaten, 1885; 
Stammler, Utopien (Deutsche Rundschau, 1892, Bd. 70 
S 281); Reiner, Berühmte Utopisten und ihr Staats- 
ideal, 1906; Andreas Boigt, die sozialen Utopien, 1906, 
*1912; Prys, der Staatsroman des 16. und 17. Jahrhun- 
derts und sein Erziehungsideal, 1913 (mit ausführlicher Li- 
teratur); rippenverg, Rolbinson in Deutschland bis 
zur Insel Felsenburg. 1892. — In einzelner Hinsicht: 
Rehm, Geschichte der Staatsrechtswissenschgft 1896, S. 
30 f (Plato); v. Frisch, Platos Idealstaat (Rekt. Rede, 
1913); Schwitzky, Der europäische Fürstenbund Georgs 
von Podiebrad, Diss., Marbura, 1907; E. H. Mener, 
die staats= und völkerrechtlichen Idcen von Peter Dubois, 
1908; Borner, das Weltstaatsprojekt des Abbe de Saint 
Pierre, 1013. — Ruck, Die Leibnizsche Staatsidee 1909. 
— Gothein, Derchristlich-soziale Staat der Jefuiten in 
Paraguay. 1883. — Wilh. Münch, Gedanken über Für- 
stenerziehung aus alter und neuer deit, 1909. (D. O.) 
  
 
	        
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