Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Dritter Band. O bis Z. (3)

  
Verwaltung, Verwaltungsrecht 
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Trotz aller dieser Errungenschaften des Absolu- 
tismus fehlte aber der einheitliche Ge- 
setzesbegriff, den dieser nun einmal zu schaf- 
fen außerstande ist. Die ihn einigermaßen er- 
setzende Kodifikation war immer mehr durchlöchert 
worden, die Kraft zur Gesetzesrevision war er- 
lahmt, und eine viel beklagte Praxis von gelegent- 
lichen, in Gesetzgebung und Rechtspflege eingrei- 
fenden Kabinettsorders machte den grundlegenden 
Mangel immer fühlbarer (vgl. Ludwig v. Gerlach, 
Aufzeichnungen aus seinem Leben 1, 231). Auch 
der Semi-Konstitutionalismus der ständischen Verf 
von 1823 und 1847, der für alle allgemeinen Ge- 
setze, die „Veränderungen i in Personen- und Eigen- 
tumsrechten zum Gegenstande haben“ b, die „An- 
hörung Unserer getreuen Stände“ vorschrieb, konnte 
das gerade für das Verwr erforderliche sichere 
Fundament nicht schaffen. Erst die Revolution 
brachte auch uns mit dem wirklichen konstitutio- 
nellen Gesetzesbegriff der Verfassungsurkunde das 
juristische Ende des Kabinettsorderwesens, und die 
Gesetzgebung des Verfassungsstaates dann 
weiter eine Revision der Kompetenzkonfliktsgesetz- 
gebung der Reaktionszeit und schließlich die Verw- 
Gerichtsbarkeit als Krönung des konstitutionellen 
Rechtsstaates. 
Die süddeutschen Mittelstaaten hatten 
bereits im zweiten Dezennium des 19. Jahrhun- 
derts ihre Verfassungsurkunden erhalten. Bei den 
meisten dieser Verfassungsurkunden ist die Re- 
zeption des konstitutionellen Gesetzesbegriffes un- 
zweifelhaft: vgl. ös 88—90 der Württ. Verfürk 
à 72 der Hesfischen, 6 85 der Sachsen-Meiningischen 
(bgl. Göz, StR Kgr. Württemberg S 211 
Note 2; van ue, StR d. Gr. Hessen S 152 
Note 1 Bühler, Die subjektiven öffentlichen 
Rechte 1i04). 
Bei der bayrischen und badischen Verfassungs- 
urkunde dagegen ist darüber gestritten worden, 
inwieweit sie den konstitutionellen Gesetzesbegriff 
rezipiert haben. Denn da sie eine Mitwirkung 
der Landtage nur für „allgemeine“ Gesetze vor- 
schreiben, die „die Freiheit der Personen oder das 
Eigentum der Staatsangehörigen betreffen“, ist 
es zweifelhaft, ob sie die „Freiheits= und 
Eigentumsklausel“ — wie das preußische 
Gesetz über die Provinzialstände, übrigens auch 
die preußischen „41 Artikel“ des Wiener Kon- 
gresses a 7 und das Kgl Dekret v. 22. 5. 1815 
#§ 4 — zur Bezeichnung eines Ausschnittes 
aus der Gesetzgebung verwenden, oder ob sie 
durch sie — wie die déclaration des droits de 
Fhomme et du citoyen bon 1789 a 2 und 4 und 
andere Urkunden, die ebenfalls an die „natürlichen“ 
Rechte Freiheit und Eigentum denken — eine De- 
finition des konstitutionellen Gesetzesbegriffes 
geben wollen. (Vgl. auch § 9 I 2.) 
Val. Seydel-Piloty, St # 5%% Oeschey, 
Die bayrische Verfassungsurkunde und die Charte Lud- 
wigs XVIII. 80 f; F. Rosin, Gesetz und Verordnung 
nach badischem Recht; H. O. Meisner, Die Lehre 
vom monarchischen Prinzip im Zeitalter der Restauration 
und des deutschen Bundes 263 ; W. Andreas, Ge- 
schichte der badischen Verw Organisation und Verfossung 
1, S 396 f, 443; Walz, St d. Gr. Baden 3 65; Büh- 
Der, Die subiektiven öffentl. Rechte S87f, 93 fF; Thoma, 
Der Polizeibefehl im badischen Rechte 1, 114 ff. 
Der Erlaß der Polizeistrafgesetzbücher hat der 
Frage die praktische Bedeutung genommen, und 
  
  
den Grundsatz des Vorranges des Gesetzes auch 
in Bayern und Baden gegenüber der Verw end- 
gültig sicher gestellt: vgl. unten §s 8, 9. 
v. Sarwey, Das öffentliche Recht und die Verw- 
Rechtspflege, S 92 f, 119 f, 164f: Loening, Ge- 
richte und Verw Behörden in Brandenburg= Preußen; 
O. Mayer 4 3—5; Fleiner 1 3; Schoen 4 4; 
E. v. Meier, Französische Einflüsse Bd. II; Der s., 
Die Reform der Verw Organisation unter Stein und Har- 
denberg?; Ders., Verw# in der Enzykl. 2, 653 ff; Hub- 
rich, Preußisches Staatsrecht 1# 1—3; Ders., Die 
Grundlagen des morarchischen Staatsrechts Preußens im 
VerwArch Bd. 16 u. 17; Seydel-Piloty, StN 
4# 8, 9, 68, 83—86; Denkwürdigkeiten des Grafen von 
Montgelas, nebst Einleitung über die Entstehung 
des modernen Staates in Bayern von M. Doeberl, 
1908; O. Bühler, Die Zuständigkelt der Zivilgerichte 
gegenüber der Berw im Württembergischen Recht und 
ihre Entwicklung seit Anfang des 19. Ihdts., 1911; Göz, 
VerwzRechtspflege in Württemberg 1# 1—3; v. Calker, 
StNKe des Großherzogtums Hessen #14 28, 37. 
III. bie Verwaltung im Instem der Gewalten- 
teilung 
5*7. Kritik der üblichen Darstellung der Ge- 
waltenteilung. 
I. Die übliche Darstellung der 
Teilung der Gewalten geht dahin, 
daß die 26 islative Recht setze, die Justiz Recht 
spreche, und daß der Begriff der Verw oder 
Vollziehung nur negativ bestimmt werden könne: 
sie sei der Rest der staatlichen Tätigkeit, der weder 
in Rechtsetzen noch in Rechtsprechen bestehe. 
Diese Teilung der Gewalten sei bei uns jedoch 
nicht rein durchgeführt: jede Gewalt habe außer 
der eigenen, ihr wesentlichen Zuständigkeit immer 
noch ein Stück aus der andern. Die Legislative 
verwalte, wenn sie den Etat oder Anleihen be- 
schließt, sie spreche Recht, wenn sie Verfassungs- 
Streitigkeiten erledige; die Justiz setze Recht bei 
der Ausfüllung von Gesetzeslücken und der Weiter- 
bildung des Gesebesrechtes, sie verwalte die frei- 
willige Gerichtsbarkeit; die vollziehende Gewalt 
setze Recht in Ausführungs- und Polizeiverord- 
nungen, sie spreche Recht z. B. in Wildschadens- 
sachen. — Man ist daher soweit gegangen, die 
Herrschaft der Gewaltenteilung bei uns überhaupt 
zu leugnen. In der Tat leuchten die Mißlichkeiten 
dieser Darstellung, die sich insbesondere in der 
bloß negativen Fassung des Begriffes der Verw 
zeigen, sofort ein. 
hr prinzipieller Fehler dürfte 
darin liegen, daß sie die drei Gewalten als „ma- 
terielle Hoheitsrechte“ behandelt, was Justiz und 
Verw zur Zeit des Absolutismus in der Tat 
ja auch waren (s. oben § 4 II, & 6 II), während 
der konstitutionelle Gesetzesbegriff gerade hierin 
Wandel geschafft hatte. Sie geht begrifflich von 
psychologischen, apriorischen, materiellen Be- 
griffen, tatt von positiven Rechtsbegrif- 
fen aus: Der gleiche psychologische und materielle 
Tatbestand aber kann in den verschiedensten 
Rechtsformen behandelt werden. Die Anfechtung 
einer irrtümlichen Willenserklärung erfolgt bald 
durch private Willenserklärung (Bo #§s 122), 
bald gegenüber einer Behörde (beim Testament), 
bald durch gerichtliche Klage (bei der Ehe); die 
Ergänzung des Willens geschäftsbeschränkter Per-
	        
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