Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Dritter Band. O bis Z. (3)

  
Verwaltung, Verwaltungsrecht 
697 
  
werden: Justiz ist das, was die ordent- 
lichen Gerichte in Ausübung ihrer 
richterlichen Funktionen, bei denen sie 
keiner Autorität als der der Gesetze (also keinen 
Dienstanweisungen) unterworfen sind, tun, — 
Verwaltung das, was die Verwal- 
tungsbehörden auf Grund gesetzlicher 
Ermächtigungen tun. 
Selbst weitere formale Kriterien können 
in die Begriffsbestimmungen nicht ausgenommen 
werden, da für beide Behördenarten eine Fülle 
von verschiedenen Verfahrensformen aus- 
ebildet sind, die sich einander stark annähern. 
#eben dem „gewöhnlichen“ streitigen Gerichts- 
verfahren stehen Amtsgerichtsprozeß, Mahnver- 
fahren, die familienrechtlichen Prozeßformen, 
das Aufgebotsverfahren, die Verfahrensarten der 
freiwilligen Gerichtsbarkeit. Ebenso bestehen 
(vgl. zum Folgenden auch O. Mueller, Die Be- 
griffe der VerwRPflege und des Verwtreit- 
verfahrens 1895) für die Verw Behörden die Nor- 
men des dem gerichtlichen Verfahren angenäherten 
Beschlußverfahrens IN/1, ja innerhalb des gewöhn- 
lichen Verw Verfahrens zahlreiche Formvorschrif- 
ten, die eine Anhörung der Beteiligten vorschrei- 
ben. Der Verw'rganismus hat sich sogar elastisch 
genug gezeigt, um neben dem Beschlußverfahren [(N 
ein wirkliches gerichtliches Verwaltungsstreitver- 
fahren [J] zu entwickeln, für das in der obersten 
Instanz überall eine sich als Gericht bezeichnende 
Behörde besteht, die — ohne in den Organismus 
der Justiz eingegliedert und ohne den Normen 
des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Ver- 
fassungsurkunden über die richterliche Gewalt 
unterworfen zu sein — auf Grund einfacher Ge- 
setzggebung die höchsten Garantien richterlicher 
Unabhängigkeit besitzt. Auch in der Finanzver- 
waltung [J|] bestehen solche „unabhängigen“ 
Behörden. Dieser rein formellen gegenseitigen 
Annäherung von Justiz und Verw ist es zu dan- 
ken, daß der frühere Gegensatz beider an Schärfe 
bedeutend verloren hat, und die Zuweisung be- 
stimmter Materien an das eine oder andere for- 
melle Hoheitsrecht ohne Doktrinarismus nach 
reinen Zweckmäßigkeitserwägungen erfolgen kann. 
Auf ihr beruhen auch die fruchtbaren Analogien, 
die W. Jellinek und Kormann aus dem Prozeß- 
recht für das Verwr zu verwerten gewußt haben 
(vgl. auch Spiegel, Die Verwf Wissenschaft 79 ff). 
2. Wegen des Vorranges des Gesetzes gegenüber 
der Verw war über deren formelle Beziehungen 
nichts weiter zu sagen; dagegen macht die 
prinzipielle Koordination von Justiz 
und Verwaltung deren formelle Be- 
ziehungen zu sehr komplizierten. 
Grundsätzlich ist, im Gegensatz zum französischen 
Recht, bei uns jede in ihrem Gebiet selbständig, 
und löst in ihren Formen die für ihre Entschei- 
dungen präsudizierlichen Vorfragen (vgl. auch 
Friedrichs, LWVG S 11f). Aber diese grundsätz- 
liche gegenseitige Unabhängigkeit muß oft hinter 
dem Gedanken, daß beide doch Zweige der 
einheitlichen Staatsgewalt sind, zurück- 
treten, woraus sich erst neuerdings eingehender 
von Kuttner, Stein und Kormann untersuchte 
schwierige Probleme ergeben. 
Außer Beziehungen gegenseiti- 
9e ßoer Unterstützungtz. B. Amtshilfe ([M und 
itteilungspflichten) gibtes Beziehungen 
  
gegenseitiger Bindung. Wo aus- 
drückliche Normen bestehen, die die Bindung 
vorschreiben oder ausschließen, können höchstens 
Subsumtionsschwierigkeiten auftauchen. Aber be- 
reits, wo die richterliche Prüfung von 
Verwaltungsakten durch die Generalklausel, 
daß sie sich nicht auf die Zweckmäßigkeit oder auf 
Ermessensfragen erstrecken dürfe, eine Bin- 
dung erfährt, ist eine umfangreiche Literatur ent- 
standen: vgl. neuestens v. Laun, Das freie Ermes- 
sen und seine Grenzen, 1910; Ders., Zum Problem 
des freien Ermessens in der Festschrift für Zitel- 
mann; W. Jellinek, Gesetz, Gesetzesanwendung und 
Zweckmäßigkeitserwägung, 1913; Friedrichs, Pol- 
VG S 252f, 262fj; Kelsen, Hauptprobleme d. 
Staatsrechtslehre S 503 f; Bühler, Die subjek- 
tiven öffentlichen Rechte, 1914. 
Infolge der „normativen Natur“ und des „Blankett- 
charakters“ aller Rechtsbegriffe (ugl. E. Kaufmann, Wesen 
des VBölkerrechts S 84 f, 213 ) muß in der ESubsumtion 
unter Ermessen gewährende Rechtssätze stets eine ge- 
wisse Ermessenskontrolle liegen, die den Gegensatz des 
freien Ermessens und der strengen Gebundenheit zu einem 
bloß relativen macht, so daß solgerichtig die Frage nach 
den Grenzen des Ermessens eine Rechtsfrage ist (Flei. 
ner S 128). 
Bei der positivrechtlichen Verschiedenheit in der Aus- 
çestaltung, die die einzelnen Verwülkte sormell und ma- 
teriell erfahren haben, dürften einheitliche „natürliche 
Rechtsregeln“ nicht aufzeigbar sein, außer der einen, daß 
der einen Berwülkt nachprüsende Richter mit dem erfor- 
derlichen Takt versahren muß, um sich nicht an die Stelle 
der VerwBehörde zu setzen, daß er sich darauf zu be- 
schränken hat, die Einhaltung der vom positiven Recht je- 
weils gewollten äußersten rechtlichen Schranken zu kontrol- 
lieren, daß er darauf zu sehen hat, daß der Maßstab des 
bonus pater famillas“, des „ordentlichen VerwBeamten“ 
(O. Mayer 1, 193) eingehalten werde, daß der Verwalt „in 
the exercise of a reasonable dliscretlon“, wie man in England 
und der Union sagt, ergangen ist, — domit er die Initiative 
und die Selbstverantwortlichkeit der Behörden nicht lähmt. 
Da es sich hier um eine Taktfrage handelt, ist es klar, daß 
die Praxis der verschiedenen Gerichte sich ihre besonderen 
(ev. auch wechselnden) Traditionen schafsen wird. Die 
Parallele bildet nicht die Stellung des Richters zum Gesetz, 
sondern seine Prüsung von Aeußerungen der Korporations- 
und Vertragsfreiheit: auch hier hat er sich von jeder bureau- 
kratischen Besserwisserei sernzuholten (val. als Beispiel 
Delius, Ausschluß aus Vereinen, Verwürch 22, 223 fjß, 
um die Initiative des gesellschaftlichen Selbstbetriebes 
nicht zu lähmen;: auch hier ist es nicht möglich, andere als 
ganz formale Kriterien für die „Grenzen der Vertragsfreiheit“ 
zu finden, die der Ausfüllung aus den unerdlich verschie- 
denen „Wesenszwecken“ der einzelnen Geschäftstypen be- 
dürfen (ugl. Stammler, Lehre v. richtig. Rechte 282 f und 
dazu E. Kaufmann a. a. O. S 174 f, 205 f, 213 f, 217 fj. 
Wo ausdrückliche Normen gänzlich fehlen, 
wachsen die Schwierigkeiten. Man hat hierfür 
die beiden Begriffe der Tatbestands- 
wirkung und der Feststellungswirkung 
aufgestellt, ohne freilich bisher auch nur über die 
Abgrenzung dieser beiden Kategorien Einigkeit er- 
zielt zu haben, indem Kormann die von rechtsge- 
staltenden Staatsakten ausgehende Fernwirkung 
als Tatbestandswirkung, Stein als Wirkung der 
materiellen Rechtskraft auffaßt. Man wird sich 
jedenfalls wohl ebenso davor zu hüten haben, zu 
leicht einen rechtsgestaltenden Verwkt anzuneh- 
men, der die Nachprüfbarkeit der Gerichte ein-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.