Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Dritter Band. O bis Z. (3)

  
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Verwaltung, Verwaltungsrecht 
  
schränkt und uns indirekt zum französischen System 
der materiellen Abgrenzung von Justiz und Verw 
führen würde, das nun einmal nicht das unsere 
ist, wie davor, die Verschiedenheit der Prozeß- 
maximen (Anerkenntnis= und Versäumnisurteile!) 
zu unterschätzen, gerade auch für die Fälle, wo 
dasselbe Rechtsverhältnis unter denselben Par- 
teien in Frage steht. Anderseits ist naturgemäß 
die verschiedene Beurteilung desselben Tat- 
bestandes durch verschiedene Behörden ein großer 
Uebelstand; und es darf — jedenfalls bei einer 
künftigen gesetzgeberischen Lösung des Problems 
— nicht vergessen werden, daß der Gegensatz 
zwischen Justiz und Verw an Schärfe verloren 
hat, insbesondere seitdem man eingesehen hat, 
daß auch die richterliche Tätigkeit nicht in einem 
bloß „logischen" Subsumieren besteht, und seit- 
dem die Verw infolge der fortschreitenden Kodi- 
fikation großer Einzelgebiete, infolge der Differen- 
zierung und Verfeinerung ihrer Verfahrensarten 
und der Bewährung der Verw Gerichtsbarkeit über- 
all an Vertrauen gewonnen hat. 
5# ##. Die materiellen Beziehungen der Ver- 
waltung. Neben dieser Ordnung der formellen 
Beziehungen der Verw zum Gesetz und zur Justiz 
bedarf es einer materiellen Ordnung, die die 
einzelnen Inhalte unter die formel- 
len Hoheitsrechte verteilt. Eine solche 
Ordnung ist für das Verhältnis von Justiz und 
Verw eine unbedingte Notwendigkeit wegen der 
grundsätzlichen Koordination beider Gewalten. Für 
das Verhältnis von Gesetz und Verw were sie 
wegen des Vorranges des Gesetzes an sich ent- 
behrlich, da die Grenzziehung der jeweiligen Re- 
gelung durch die einzelnen Akte der Legislative 
überlassen werden könnte; aber unsere Verfassungs- 
urkunden haben es für nötig befunden, einige be- 
sonders wichtige grundsätzliche Beziehungen unter 
die besondere Garantie der Verfassung zu stellen: 
sie haben verfassungsmäßige „Vorbehalte" sowohl 
zugunsten der Gesetzgebung wie zugunsten der 
Verw geschaffen. 
I. Zum Gesetz## (die Vorbehalte). 
1. Vorbehalte des Gesetzes. In- 
folge des „Vorranges“ der Gesetze können die 
„Vorbehalte" zu ihren Gunsten zunächst nur die 
Bedeutung haben, daß die Legislative verfassungs- 
mäßig gehalten sein soll, bestimmte und besonders 
wichtige Inhalte nicht der Verw zu überlassen, 
sondern sie selbst zu normieren: sie soll in ihrer 
grundsätzlichen Freiheit, ihre Grenze nach unten 
in jedem besonderen Falle beliebig zu ziehen, 
für bestimmte Inhalte beschränkt werden, und 
verpflichtet sein, in diesen Beziehungen nach 
unten hin selbst vorzudringen und dadurch deren 
Normierung durch Verordnung oder andere 
Verwllkte auszuschließen. So bei der Beschrän- 
kung der persönlichen (lokomobilen) Freiheit, beim 
Eindringen in Wohnungen, bei der Entziehung 
oder Beschränkung des Eigentums, der Ver- 
hängung von (Kriminal-) Strafen, der Aufnahme 
einer Anleihe, der Balancierung der Einnahmen 
und Ausgaben, der Organisation der Gerichte, 
der Amtsentsetzung der Richter usw. usw. Hierin 
sehe ich den Sinn des einen Teiles der „Enume- 
rationen“ unserer Verfassungsurkunden, die da- 
nach von Arndt durch Verkennung der in dem 
Vorrange des Gesetzes liegenden (formalen) 
Generalklausel und durch eine zu weite Interpreta- 
  
tion der à 5 und 9 der Preuß. Vll, von Anschütz 
durch deren Charakterisierung als bloßer „Exempli- 
fikationen“ unrichtig beurteilt sein dürften. 
Sodann ergibt sich die Notwendigkeit der 
Schaffung von Vorbehalten zugunsten der Ge- 
setzgebung durch die Aufrechterhaltung des der 
Verfassungsurkunde nicht widersprechenden vor- 
konstitutionellen Verw (a 109 Preuß. Bu; 
5* 91 Württ. VU). Diese Aufrechterhaltung for- 
dert eine weitere Gruppe von verfassungsmäßigen 
Vorbehalten zur Bezeichnung derjenigen „Ge- 
biete“, die bei einer Neuregelung des Weges der 
Gesetzgebung bedürfen (soweit sich in Preußen 
dieser Weg nicht schon daraus ergibt, daß viele 
Gebiete seit 1823 nach „Anhörung der Stände“ 
geregelt worden sind). 
2. Die Vorbehalte der Verwal- 
tung haben naturgemäß den entgegengesetzten 
Sinn wie die des Gesetzes, indem es sich bei ihnen 
nicht um ein Vordringen der obersten Gewalt nach 
unten hin, sondern um einen verfassungsmäßigen 
Schutz der unteren Gewalt gegen zu starke Ein- 
schnürungen durch die obere handelt. Diese Vor- 
behalte konstituieren ein verfassungsmäßig 
garantiertes Prärogativgebiet der 
vollziehenden Gewalt, namentlich für die 
auswärtige Verw, die Militärgewalt, die oberste 
Leitung der Politik durch Ernennung und Ent- 
lassung der Minister [II, das Belohnungswesen 
(Orden (|, Titel usw.), das Begnadigungsrecht (JI 
usw. Wo die Eigentums= und Freiheitsklausel den 
engeren Sinn (s. oben §# 6 III) hat, besteht ein 
solcher Vorbehalt auch zugunsten des Polizeirechts, 
wie z. B. auch in Braunschweig (Neue Land- 
schafts O v. 12. 10. 32 s§ 98, 99 — im Gegensatz 
zu Bu von Hessen a 72, vgl. dazu van Calker, 
StR d. Großherz. Hessen S 152 Note 1; und zu 
Vul von Württemberg § 90, vgl. dazu Göz, St R 
d. Kgr. Württemberg S 211 Note 2). 
Auf diesem Prärogativgebiet foll sich die voll- 
ziehende Gewalt frei bewegen dürfen, auch recht- 
setzend, soweit nicht besondere Bestimmungen 
dies wieder einschränken: in diesen Vorbehalten 
liegt ein Kern des sogen selbständigen Ver- 
ordnungsrechtes I(/I1, das also kein vorkon- 
stitutionelles, sondern auf der Verfassung selbst 
ruhendes ist (vgl. auch Arndt, Selbständiges Ver- 
ordnungsrecht S 205, 207). Große Schwierigkeiten 
können durch Kollisionen dieser Prärogativbefug- 
nisse mit dem Budgetrecht erwachsen, die bisher 
meist nur für die sogen. Organisationsgewalt er- 
örtert und gelöst worden sind, aber sehr viel kom- 
plizierter liegen, wenn es sich um die Prärogative 
der Kriegserklärung, des Friedensschlusses, der 
kriegsbereiten Aufstellung des Reichsheeres (a 63 
Abs 4) u. dgl. handelt. 
Als ein weiterer großer Vorbehalt zugunsten 
der Verw wirkt sodann die Aufrechterhal- 
tung des vorkonstitutionellen Ver- 
waltungsrechts, das Preußen seit dem 18. 
Jahrhundert, die süddeutschen Staaten nach Auf-- 
lösung des Reiches geschaffen haben. Denn dies 
absolutistische VerwR enthält naturgemäß große 
Ermächtigungen an die Organe der Verw; es ist 
das von der Verfassung angenom- 
mene eingebrachte Gut des Absolutismus und 
enthält so vielfach den zweiten Kern des sog. selb- 
ständigen Verordnungsrechtes, das daher auch auf
	        
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