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Verwaltung, Verwaltungsrecht
schränkt und uns indirekt zum französischen System
der materiellen Abgrenzung von Justiz und Verw
führen würde, das nun einmal nicht das unsere
ist, wie davor, die Verschiedenheit der Prozeß-
maximen (Anerkenntnis= und Versäumnisurteile!)
zu unterschätzen, gerade auch für die Fälle, wo
dasselbe Rechtsverhältnis unter denselben Par-
teien in Frage steht. Anderseits ist naturgemäß
die verschiedene Beurteilung desselben Tat-
bestandes durch verschiedene Behörden ein großer
Uebelstand; und es darf — jedenfalls bei einer
künftigen gesetzgeberischen Lösung des Problems
— nicht vergessen werden, daß der Gegensatz
zwischen Justiz und Verw an Schärfe verloren
hat, insbesondere seitdem man eingesehen hat,
daß auch die richterliche Tätigkeit nicht in einem
bloß „logischen" Subsumieren besteht, und seit-
dem die Verw infolge der fortschreitenden Kodi-
fikation großer Einzelgebiete, infolge der Differen-
zierung und Verfeinerung ihrer Verfahrensarten
und der Bewährung der Verw Gerichtsbarkeit über-
all an Vertrauen gewonnen hat.
5# ##. Die materiellen Beziehungen der Ver-
waltung. Neben dieser Ordnung der formellen
Beziehungen der Verw zum Gesetz und zur Justiz
bedarf es einer materiellen Ordnung, die die
einzelnen Inhalte unter die formel-
len Hoheitsrechte verteilt. Eine solche
Ordnung ist für das Verhältnis von Justiz und
Verw eine unbedingte Notwendigkeit wegen der
grundsätzlichen Koordination beider Gewalten. Für
das Verhältnis von Gesetz und Verw were sie
wegen des Vorranges des Gesetzes an sich ent-
behrlich, da die Grenzziehung der jeweiligen Re-
gelung durch die einzelnen Akte der Legislative
überlassen werden könnte; aber unsere Verfassungs-
urkunden haben es für nötig befunden, einige be-
sonders wichtige grundsätzliche Beziehungen unter
die besondere Garantie der Verfassung zu stellen:
sie haben verfassungsmäßige „Vorbehalte" sowohl
zugunsten der Gesetzgebung wie zugunsten der
Verw geschaffen.
I. Zum Gesetz## (die Vorbehalte).
1. Vorbehalte des Gesetzes. In-
folge des „Vorranges“ der Gesetze können die
„Vorbehalte" zu ihren Gunsten zunächst nur die
Bedeutung haben, daß die Legislative verfassungs-
mäßig gehalten sein soll, bestimmte und besonders
wichtige Inhalte nicht der Verw zu überlassen,
sondern sie selbst zu normieren: sie soll in ihrer
grundsätzlichen Freiheit, ihre Grenze nach unten
in jedem besonderen Falle beliebig zu ziehen,
für bestimmte Inhalte beschränkt werden, und
verpflichtet sein, in diesen Beziehungen nach
unten hin selbst vorzudringen und dadurch deren
Normierung durch Verordnung oder andere
Verwllkte auszuschließen. So bei der Beschrän-
kung der persönlichen (lokomobilen) Freiheit, beim
Eindringen in Wohnungen, bei der Entziehung
oder Beschränkung des Eigentums, der Ver-
hängung von (Kriminal-) Strafen, der Aufnahme
einer Anleihe, der Balancierung der Einnahmen
und Ausgaben, der Organisation der Gerichte,
der Amtsentsetzung der Richter usw. usw. Hierin
sehe ich den Sinn des einen Teiles der „Enume-
rationen“ unserer Verfassungsurkunden, die da-
nach von Arndt durch Verkennung der in dem
Vorrange des Gesetzes liegenden (formalen)
Generalklausel und durch eine zu weite Interpreta-
tion der à 5 und 9 der Preuß. Vll, von Anschütz
durch deren Charakterisierung als bloßer „Exempli-
fikationen“ unrichtig beurteilt sein dürften.
Sodann ergibt sich die Notwendigkeit der
Schaffung von Vorbehalten zugunsten der Ge-
setzgebung durch die Aufrechterhaltung des der
Verfassungsurkunde nicht widersprechenden vor-
konstitutionellen Verw (a 109 Preuß. Bu;
5* 91 Württ. VU). Diese Aufrechterhaltung for-
dert eine weitere Gruppe von verfassungsmäßigen
Vorbehalten zur Bezeichnung derjenigen „Ge-
biete“, die bei einer Neuregelung des Weges der
Gesetzgebung bedürfen (soweit sich in Preußen
dieser Weg nicht schon daraus ergibt, daß viele
Gebiete seit 1823 nach „Anhörung der Stände“
geregelt worden sind).
2. Die Vorbehalte der Verwal-
tung haben naturgemäß den entgegengesetzten
Sinn wie die des Gesetzes, indem es sich bei ihnen
nicht um ein Vordringen der obersten Gewalt nach
unten hin, sondern um einen verfassungsmäßigen
Schutz der unteren Gewalt gegen zu starke Ein-
schnürungen durch die obere handelt. Diese Vor-
behalte konstituieren ein verfassungsmäßig
garantiertes Prärogativgebiet der
vollziehenden Gewalt, namentlich für die
auswärtige Verw, die Militärgewalt, die oberste
Leitung der Politik durch Ernennung und Ent-
lassung der Minister [II, das Belohnungswesen
(Orden (|, Titel usw.), das Begnadigungsrecht (JI
usw. Wo die Eigentums= und Freiheitsklausel den
engeren Sinn (s. oben §# 6 III) hat, besteht ein
solcher Vorbehalt auch zugunsten des Polizeirechts,
wie z. B. auch in Braunschweig (Neue Land-
schafts O v. 12. 10. 32 s§ 98, 99 — im Gegensatz
zu Bu von Hessen a 72, vgl. dazu van Calker,
StR d. Großherz. Hessen S 152 Note 1; und zu
Vul von Württemberg § 90, vgl. dazu Göz, St R
d. Kgr. Württemberg S 211 Note 2).
Auf diesem Prärogativgebiet foll sich die voll-
ziehende Gewalt frei bewegen dürfen, auch recht-
setzend, soweit nicht besondere Bestimmungen
dies wieder einschränken: in diesen Vorbehalten
liegt ein Kern des sogen selbständigen Ver-
ordnungsrechtes I(/I1, das also kein vorkon-
stitutionelles, sondern auf der Verfassung selbst
ruhendes ist (vgl. auch Arndt, Selbständiges Ver-
ordnungsrecht S 205, 207). Große Schwierigkeiten
können durch Kollisionen dieser Prärogativbefug-
nisse mit dem Budgetrecht erwachsen, die bisher
meist nur für die sogen. Organisationsgewalt er-
örtert und gelöst worden sind, aber sehr viel kom-
plizierter liegen, wenn es sich um die Prärogative
der Kriegserklärung, des Friedensschlusses, der
kriegsbereiten Aufstellung des Reichsheeres (a 63
Abs 4) u. dgl. handelt.
Als ein weiterer großer Vorbehalt zugunsten
der Verw wirkt sodann die Aufrechterhal-
tung des vorkonstitutionellen Ver-
waltungsrechts, das Preußen seit dem 18.
Jahrhundert, die süddeutschen Staaten nach Auf--
lösung des Reiches geschaffen haben. Denn dies
absolutistische VerwR enthält naturgemäß große
Ermächtigungen an die Organe der Verw; es ist
das von der Verfassung angenom-
mene eingebrachte Gut des Absolutismus und
enthält so vielfach den zweiten Kern des sog. selb-
ständigen Verordnungsrechtes, das daher auch auf