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Verwaltung, Verwaltungsrecht
Daß man aus dem funktionellen System der Gewalten-
teilung auch die entgegengesetzte materielle Gestaltung des
Verhältnisses der Justiz zu den anderen Gewalten herlei-
ten kann, zeigt am besten die Entwicklung der Vereinigten
Staaten von Amerika, wo (vgl. The Federalist, a Commen-
tary of the Constltutlon of the US8, Pbiladelphia 1871
S 577f j; Herschey, Die Kontrolle der Gesetzgebung in den
Ver. St. und deren Gliedern S 26 f; Freund, Juris-
prudenz und Gesetzgebung im Jahrb OefsfR 1, 143 f; Derfs.,
Das öffentliche Recht in den Ver. St. v. A. S 84 f, 95 f;
Burgeß, Polltical science and comparative constitutional
law Vol 1 S 178 f, Vol II S 356 f; Hasbach in 3 f. Po-
litik 6, 49 ) nicht nur die Verwaltung, sondern auch die
Gesetzgebung der gerichtlichen Kontrolle unterstellt ist.
Auch wieder aus politischen Motiven: nämlich dem „repu-
blikanischen“ Gedanken, in einer unabhängigen, nur von
„Logik und Vernunft“ geleiteten Rechtsprechung ein Ge-
gengewicht gegen die blinde Mojoritätsherrschaft einer
„Demokratie“ zu schaffen. Umgekehrt fürchtete die Demo-
kratie der französischen Revolution, daß eine Gerichts-
kontrolle über die Verw der Durchführung ihrer Prinzipien
ebenso gefährlich werden könnte, wie die parlements die
vorrevolutionäre Reformgesetzgebung verhindert hatten.
Mit der Ausbildung der beiden Begriffe
domaine public und travaux publics knüpfte die
Revolution an das ancien régime an. Wie überall
hatte auch der Absolutismus in Frankreich ver-
sucht, die staatliche Verw-Tätigkeit von der Ge-
richtskontrolle zu befreien (oben Ss 4, 6 II und
III). So hatte er namentlich die sog. „großen
Domänen“ (insbesondere die Wälder, Ströme,
Wege und Meeresufer) zu königlichem Eigen-
tum gemacht und damit die Arbeiten auf und
an diesen in großartiger Weise monopolisiert
und zentralisiert: sie wurden der Aufsicht der
Intendanten unterstellt, denen auch die Ent-
scheidung der Streitigkeiten übertragen wurde,
welche sich bei diesen Arbeiten und bei der Verw
der großen Domänen selbst erheben (vgl. Richter
S 331 f, 349 f). Während aber in England und
in Preußen die Reaktion gegen den Absolutismus
solche von Verw Behörden geübte Gerichtsbarkeit
heftig bekämpfte, hat die französische Revolution
an ihr nicht nur festgehalten, sondern sie weiter
ausgebaut: auch hierin wieder die rechte Erbin
des monarchischen Absolutismus, den sie lediglich
in einen demokratischen umgewandelt und viel-
Fach sogar gesteigert hat. Auch der französischen
Revolution kam es darauf an, domaine public
und travaux publics der Herrschaft des gemeinen
Rechts zu entziehen, um sie einem den Verwhe-
dürfnissen angepaßten und von VerwBehörden
gehandhabten Sonderrecht zu unterstellen.
Schon hier sehen wir, daß wir die Eigenart
unserer Entwicklung verleugnen, die bedeutenden
Kämpfe um einen Rechtsstaat im 18. und 19.
Jahrhundert voll Undank verkennen würden,
wenn wir diese Entwicklung, die wir noch um
1740 die Tendenz hatten einzuschlagen, als eine
exemplarische feiern wollten.
Das Bedeutungsvolle an den beiden Begriffen
des öffentlichen Eigentums und der öffentlichen
Arbeiten liegt darin, daß ihnen zwei Tätigkeiten
des Staates entsprechen, die
Rahmen des Polizeirechtes her-
austreten
administratif s, 661; O. Mayer, Thoeorie des
franzôös. VerwR S 161 f, 222, 221 f), indem hier
nicht mehr nur bestim mite publizisti-
aus dem
(vgl. Haurion, Drecis de droit
sche Gesichtspunkte gegenüber
dem privaten Leben herrschaft-
lich zur Geltung gebracht, sondern ganze
Gebiete in ihrer Totalität, unter
Ausschließung jeder privaten Be-
tätigung, den besonderen Normen des
Verwr unterworfen werden. Im Polizeirecht
bestecht die publizistische Tätigkeit nur in der
herrschaftlichen Geltendmachung der po-
lizeilichen Gesichtspunkte gegen-
über der privaten Eigentums- und
Vertragsordnung : hier dagegen wird die
Gesamttätigkeit des Staates zu einer
herrschaftlichen gestempelt, so daß jede Gel-
tung der privaten Eigentums- und
Vertragsordnung entfällt.
Mit dieser materiellrechtlichen Besonderheit
hängt eng eine solche der Verw Gerichtsbarkeit (7I
zusammen. Denn die französische Verw Gerichts-
barkeit ist nicht nur Rekurs gerichtsbarkeit
gegen Verfügungen der Behörden, son-
dern daneben besteht noch eine volle Ver-
waltungs gerichtsbarkeit über die ge samte
Arbeitstätigkeit der staatlichen oder
staatlich konzessionierten Unternehmungen:
ein contentieux de pleine jurisdiction. Dieser
Begriff wird von Hauriou mit Recht angeknüpft
an den Gegensatz der dbeisions e1gécu-
trices (die nur zu dem Rekurs des con-
tentieux d’annulation Veranlassung geben: haupt-
sächlich der recours pour excèes de pouvoir) und
der operations administratives
(die zu jenem contentieux depleine juris-
diction führen: hauptsächlich der contentieu!#
des indemnités). (Vgl. auch Laferriere, Traité
de jurisdiction administrative 1, 15 f; 2, 115 f.)
Aus diesen Keimen ist die Eigenart des fran-
zösischen VerwR erwachsen und in den letzten
Jahren zu einer immer größeren Ausdehnung
und zugleich begrifflichen Vereinfachung gediehen.
s 16. Ausweitung der Begriffe domalne
publie und travaux publlies; der service
publle.
I. Zunächst durch eine Ausweitung des
Begriffes travaur publices, der
nicht mehr auf Arbeiten, die in die Substanz des
domaine public eingreifen, beschränkt blieb.
Hatte man schon durch das Prinzip der Iden-
tität und Konnexität jede Tätigkeit, die auch
nur sekundär das domaine public erfaßt, unter
die travaux publics subsumiert, so ist der Staats-
rat nunmehr dazu übergegangen, jede öffent-
lichen Zwecken dienende Tätigkeit, der überhaupt
die Beziehung zum domaine public fehlt, den
travaux publics gleichzustellen. So wurden
diese zum „prototype“ der öffentlichen Verw
zum service public schlechthin. Daher
übertrug man jetzt einerseits die für die travaux
publics entwickelten materiellrechtlichen Ent-
schädigungsnormen auf jeden service public,
und anderseits die Sätze über die indemnités
pour faute de soervico auf die bei öffentlichen
Arbeiten vorkommenden Fehler, so daß die
an sich für alle Angelegenheiten der travauk
publics bestehende Zuständigkeit der conscils
de prekecture zugunsten der für fautes de serrico
begründete Zuständigkeit des conseil d’Etat
fallen gelassen wird, selbst wenn es sich um
Fehler bei travaux publics handelt.