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Verwaltungsgerichtsbarkeit (Allgemeines)
das Erfordernis der Rechtsverletzung hier nur
für den Klagegrund der Ziff. 1 ausgenommen
wurde, blieb die Möglichkeit offen, wegen des
zweiten Klagegrunds, unrichtiger Tatsachenwürdi-
gung, auch andere als rechtsverletzende Akte der
Polizei anzufechten und das OV hat in dem
Drange, seiner Kontrolle die Handhabung der
Polizei möglichst vollständig zu unterwerfen, dies
auch getan. Es prüft auch Akte des freien Er-
messens wie die Versagung (ebenso die Zurück-
nahme) von Polizeistundenverlängerung (J1, die
Versagung der Erlaubnis zu Tanzbelustigun-
gen [IXI, von Baudispensen [NI usw., auf welche
Gewährungen der einzelne nie Anspruch hat,
durch deren Versagung er also nie in seinen Rech-
ten verletzt sein kann, doch darauf hin nach, ob sie
nach Lage der Sache begründet waren. So ist
in der Praxis aus dieser Ziff. 2, die ursprünglich
nur klarstellen sollte, daß mit der Beschränkung
auf Rechtskontrolle in Ziff. 1 nicht wie bei der
Revision auch der Ausschluß der Tatfragen (son-
dern eben nur der der Ermessensfragen) gemeint
sei (uvgl. Bühler 307), ein selbständiger Anfech-
tungsgrund geworden, den Anschütz (401) Sach-
widrigkeit nennt und der insoweit, als er rechtlich
nicht gebundenen Akten gegenüber angewendet
wird, Ermessenskontrolle bedeutet, und das Fehlen
der Beschränkung auf Rechtskontrolle auf allen
Gebieten, auch dem der Polizei, muß als eine
der Haupteigentümlichkeiten der V. in Preußen
betrachtet werden.
Daß sie auch insofern über die Aufgabe „Schutz
der subjektiven Rechte der einzelnen“ hinaus-
reicht, als sie zuweilen nur der Aufrechterhaltung
des objektiven Rechts dient, pflegt man mit
Fällen wie dem des & 15 ZustGE zu belegen,
wonach die Gemeindevertretung im Fall der Be-
anstandung ihrer Beschlüsse durch den Gemeinde-
vorstand, weil sie ihre gesetzlichen Befugnisse
überschreiten oder die Gesetze verletzen, die
Verwälage erheben kann; in dem analogen
Falle des § 126 LV0 , der von Beanstandung der
Beschlüsse des Provinzialrats usw. durch den
vorsitzenden Staatsbeamten handelt, legt indes
das Gesetz selbst eine andere Konstruktion nahe,
indem es sagt, die Behörde sei befugt zur Wahr-
nehmung „ihrer Rechte“ in dem Verfahren vor
dem O einen besonderen Vertreter zu wäh-
len. Aehnlich kann man, wenn gegen eine Ent-
scheidung der Einkommensteuerveranlagungskom-
mission deren Vorsitzender ein Rechtsmittel ein-
legt (IS 43 ff Eink t G), sagen, daß er damit
einen konkreten Steuerforderungsanspruch des
Staates wahrnimmt, ebenso wie der Staatsan-
walt, der zuungunsten des Beklagten ein Rechts-
mittel einlegt, das subjektive Strafrecht des
Staates. Das Eigentümliche an diesen Fällen,
für die sich Analogien auch in andern Staaten
finden (vgl. 8 77 sächs. VRPflG) ist also nicht
sowohl, daß sie die Aufrechterhaltung des ob-
jektiven Rechts bezwecken, als daß die V. bei
ihnen nicht zum Schutze der Untertanen gegen
die obrigkeitliche Gewalt, sondern zum Schutze
der Rechte von Verworganen und auch zum
Schutz der Rechte des Staats gegen gesetzwidrige
Beeinträchtigung durch Selbstverwaltungskörper
in Tätigkeit tritt. Doch weist das preußische Recht
auch einige Fälle echter Popularklage auf
(5 57 Zustc: gegen Einziehung oder Verlegung
eines öffentlichen Weges; # 110, 113 Kr O:
Anfechtung von Kommunalwahlen und -Wahl-
verzeichnissen), in denen die Konstruktion fub-
jektiver Rechte zwar auch nicht unmöglich (vgl.
oben), aber doch gezwungen ist und richtiger die
Wahrung des objektiven Rechts als Aufgabe des
Eingreifens der V. bezeichnet wird.
Eine dritte Eigentümlichkeit der preußischen
V. besteht darin, daß sie nicht immer zum Zweck
der Korrektur eines durch die Verwaltung er-
lassenen Aktes eingreift, sondern für gewisse
einschneidende Verwokte, namentlich gewerbe-
polizeiliche (Entziehung von Konzessionen, Unter-
sagung der Fortführung eines Betriebs i. S. der
88 35, 53 GewO, i. V. mit 119 f ZustG) das von
vornherein einzuhaltende Verfahren bildet (sog.
ursprüngliche Verwaltungsstreit-
sachen). Betrachtet man als Aufgabe der
Rechtsprechung Streitentscheidung, wozu die Ana-
logie mit dem Zivilprozeß doch wohl nötigt
(anders allerdings Otto Mayer 12, 155), so kann
die Tätigkeit der Verw# in solchen Fällen offen-
bar nicht Rechtsprechung genannt werden, sie ist
dann vielmehr einfach ein Verw Verfahren, das
im Interesse des betroffenen Privaten partei-
mäßig ausgestaltet ist und sich vor einem Laien-
kollegium abspielt. Eine ganz ähnliche Sicherung
stellt nun aber das in der preußischen Gesetz-
gebung ebenfalls ausgebildete Beschlußverfah-
ren [NIl dar, sofern auch hier die Entscheid ung
durch ein solches Kollegium und in einem ähnlich
ausgestalteten Verfahren (mit fakultativer, in ge-
wissen Fällen — & 119 LVG — sogar obligato-
rischer mündlicher Verhandlung) ergeht, ein
Verfahren, das der Sache nach auch in anderen
Bundesstaaten verwirklicht ist (vgl. Tätigkeit der
Bezirksräte in Baden als Verw Behörden schon
auf Grund des Org# von 1863, jetzt der V v.
31. 8. 84, der württembergischen Bezirksräte
in staatlichen Angelegenheiten gemäß BezO v.
1906, der sächsischen Kreis- und Bezirksausschüsse
nach dem OrgG von 1873). Jene in die Sphäre
des Untertanen besonders scharf eingreifenden
Verw'Akte, von denen einige in Preußen zu ur-
sprünglichen Verw Streitsachen gemacht worden
sind, werden in diesen anderen Staaten regel-
mäßig zunächst im Beschlußverfahren behandelt
und dann erst durch Einlegung eines Rechtsmittels
in das verwaltungsgerichtliche Verfahren über-
geleitet; aber auch in Preußen selbst ist das für
eine Reihe solcher Akte geschehen (z. B. Unter-
sagung und Beschränkung von gewerblichen An-
lagen gemäß 88§ 27, 51 GewO, &§ 110—113 Zust G,
ferner S§ 114, 115, 117 Satz 2 ZustG). Es sind
also Akte ganz derselben Natur teils dem einen,
teils dem anderen Verfahren zugewiesen und
daraus ergibt sich die Unmöglichkeit, das preußi-
sche Verwtreitverfahren durch die Art der in
ihm zu erledigenden Angelegenheiten charakteri-
sieren zu wollen. Diese unterscheiden sich unter-
einander zum Teil mehr als von Angelegenheiten,
die nicht dem Verw Streitverfahren zugewiesen
sind; das gemeinsame an ihnen, dem auch die
Begriffsbestimmung Rechnung zu tragen haben
wird, ist eben nur die Form der Erledigung der
Angelegenheit.
#5* 5. Würdigung der Hauptansgestaltungen.
Begriff. Terminologie.
I. Die V. in Preußen ist also weder tatsächlich