Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Dritter Band. O bis Z. (3)

  
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Wahlrecht (Verfahren, Mehrheitswahl) 
  
Für das öffentliche WRecht wird ange führt: Würdig 
zu wählen sei nur, wer den Mut habe, seiner Ueberzeu- 
gung öffentlich Ausdruck zu geben; unter dem Schutz des 
geheimen Wechts losse sich mancher bei seiner Stimm- 
abgabe von kleinlichsten Beweggründen (Nachsucht) leiten, 
eine Stimmabgabe, die er öffentlich zu vertreten nicht 
wagen würde. Für dan geheime Wecht wird angeführt: 
Beim öffentlichen Stimmrecht hätte ein bedeutender Teil 
der wirtschaftlich oder gesellschaftlich Abhängigen bei Ab- 
stimmung nach ihrer Ueberzeugung erhebliche wirtschaftliche 
oder gesellschaftliche Nachteile von denen zu erwarten, die 
Gewalt über sie haben (Entlassung beim Arbeiter, Boykott- 
anwendung beim Handwerker oder Kaufmann). Ein großer 
Teil der Abhängigen würde sich deshalb entweder der 
Stimmabgabe enthalten oder einen anderen Kandidaten 
wählen als ihrer Ueberzeugung entspricht. Letzteres führe 
zur Heuchelei; auch sei dann das Parlament nicht mehr 
ein Spiegelbild der wirklichen Bolksüberzeugung. 
Heute besteht die öffentliche Stimm- 
abgabe nur mehr bei den Wahlen zu wenigen 
einzelstaatlichen Parlamenten; es besteht noch in 
Preußen undin Waldeck. Bei den Wahlen 
zum Deutschen Reichstag und zu den 
übrigen einzelstaatlichen Parla- 
menten findet geheime Stimmabgabe 
statt und zwar erfolgt regelmäßig die Stimm- 
abgabe durch Ueberreichung von Stimmzetteln, 
die der WBerechtigte selbst beizubringen hat, die 
von weißem Papier und ohne äußere Kennzeichen 
sein müssen. In Koburg-Gotha werden den Wäh- 
lern im WLokal unbedruckte Stimmzettel von 
vorschriftsmäßiger Größe zur Verfügung gestellt, 
an die die Wähler aber nicht gebunden sind. Und 
zwar geschieht die Stimmabgabe entweder ein- 
fach durch Ueberreichung gefalteter Stimm- 
zettel 'so Sachsen-Weimar, Oldenburg, Braun- 
schweig, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, 
Schwarzburg-Sondershausen, Schwarzburg-Ru- 
dolstadt, Schaumburg-Lippe, Bremen und Lu- 
beck), oder es besteht noch eine besondere Siche- 
rung des WGeheimnisses mittels Lieferung amt- 
licher Umschläge und Bereitstellung von WVer- 
schlägen (so bei den Wahlen zum Deutschen Reichs- 
tag, in Bayern, Kgr. Sachsen, Württemberg, Ba- 
den, Hessen, Anhalt, Koburg-Gotha, Reuß ä. L., 
Reuß j. L., Lippe--Detmold, Hamburg, Elsaß- 
Lothringen). Typisch für diese Sicherung sind 
die Bestimmungen, die in dem Reglement zur 
Ausführung des WG# für den Deutschen Reichstag 
in der Fassung v. 28. 4. 03 getroffen sind. Da- 
nach müssen die Stimmzettel von weißem Papier 
und dürfen mit keinem Kennzeichen versehen sein; 
sie sollen 9 12 cm groß und von mittelstarkem 
Schreibpapier sein; sie sind von dem Wähler in 
einem mit amtlichem Stempel versehenen Um- 
schlage, der sonst keine Kennzeichen haben darf, 
abzugeben. Die Umsschläge sollen 12 NK 15 cm groß 
und aus undurchsichtigem Papier hergestellt sein. 
Es ist entweder durch Bereitstellung eines oder 
mehrerer Nebenräume, die nur durch das W Lokal 
betretbar und unmittelbar mit ihm verbunden sind, 
oder durch Vorrichtungen an einem oder mehreren 
von dem Vorstandstisch getrennten Nebentischen 
Vorsorge dafur zu treffen, daß der Wähler seinen 
Stimmzettel unbeobachtet in den Umschlag zu 
legen vermag. Bei den Wahlen zum Deutschen 
Reichstag, in Hessen, Lippe-Detmold und in 
Elsaß-Lothringen ist noch besonders Sorge dafür 
zu tragen, daß die Wüurnen eine Schichtung der 
  
Stimmzettel unmöglich machen. Nach der Bun- 
desrats Bek v. 4. 6. 13 über die Aenderung des 
WReglements v. 28. 5. 70 muß die W Urne 
verdeckt und viereckig sein; ihre Höhe muß minde- 
stens 90 om, ihre Breite und Länge 35 cm be- 
tragen und im Deckel muß ein Spalt sich befin- 
den, der nicht breiter als 2 om sein darf. 
###8. Mehrheits= und Minderheitswahlen — 
Verhältuiswahlverfahren. 
I. Die W der Abgeordneten vollzieht sich heute 
noch vorwiegend im Wege der Mehrheitswahl, 
d. h. gewählt ist derienige Kandidat oder sind die 
Kandidaten, die die Mehrheit der abgegebenen 
Stimmen erhalten haben. Im Gegensatz dazu 
stehen die Systeme der Minderheitsvertretung 
(beschränkte Stimmgebung, Stimmenhäufung, 
Rangordnungsziffer, einnamige Stimmgebung), 
auf die, da sie in der deutschen Gesetzgebung bis- 
her nicht Eingang gefunden haben, nicht einge- 
angen werden soll, und das Verhältniswahl- 
ystem, bei dem eine Berücksichtigung aller größe- 
ren Gruppen in einem Wreis nach Verhältnis 
ihrer ziffermäßigen Stärke stattfindet. Die übliche 
Methode ist hierbei die, daß größere WbKreise mit 
einer größeren Abgeordnetenzahl gebildet werden. 
Für die Verhältniswahl t(und gegen die 
Mehrheits W) wird vor allem geltend gemacht: die Berhält- 
nis W entspreche am besten dem Gedanken, daß das Parla- 
ment ein Spiegelbild aller Strömungen und Kräfte in einem 
Volke sein solle, da dabei jede Gruppe eine entsprechende 
Bertretung finde; sie dränge die Kirchturmsinteressen zu-. 
rück, die sich bei MehrheitsW in einmännigen W Kreisen von 
melst geringem Umfange doch sehr geltend machten; sie 
mildere die W Kämpfe, da dann nicht mehr um alles oder 
nichts gekämpft werde; sie bewirke, daß mehr um Brin. 
hipien als um Personen gerungen werde; sie erhöhe das 
politische Interesse in allen Teilen des Landes, va hier 
lede Stimme von Wert sei und die politisch toten W Kreise, 
in denen eine Partei eine sichere Mehrbeit habe, wegfielen. 
Für vdie Mehrheitswahl (und gegen die VBer. 
hältnisW) hat man angeführt: Sie sichere am besten vas 
Vertrauensverhältuis zwischen Wählern und Gewählten, 
das nur zwischen dem Wähler und einem oder 2 Abgeord- 
neten, nicht aber einem Wähler und einer Bielheit von 
Abgeordneten bestehen könne; sie wahre die lokalen Zusam- 
menhänge und die berechtigten lokalen Interessen, die Macht 
der Zentralparteileitungen sei hier nicht so groß wie bei der 
Verhältnis W, auch begünstige die VBerhältmis W vie Bartei- 
zersplitterung und die Entstehung wirtschaftlicher Gruppen, 
erschwere also die Bildung regierungsfähiger Mehrheiten. 
II. Bei der Mehrheitswahl unter- 
scheidet man absolute und relative 
Mehrheit. Absolute Mehrheit bedeutet, daß 
der oder die Kandidaten mehr als die Hälfte der 
abgegebenen Stimmen erhalten haben müssen 
um gewählt zu sein. Relative Mehrheit bedeutet- 
daß für Kandidaten, um gewählt zu sein, genugt 
die Höchstzahl unter den auf die Kandidaten im 
WKreis entfallenen Stimmen, gleichgültig ob es 
mehr als 50% oder weniger sind. Wo absolute 
Mehrheit gilt, muß darüber Bestimmung getrof- 
fen sein, wie es zu halten ist, wenn im 1. Wahlgang 
keiner der Kandidaten mehr als die Hälfte der 
Stimmen erhalten hat; dann findet entweder eine 
engere W zwischen den beiden Kandidaten mit 
den meisten Stimmen statt (Stichwahl) oder im 
zweiten Wahlgang entscheidet relative Stimmen- 
mehrheit (romanisches WVerfahren). In man- 
chen Fällen wird eine sog. qualifizierte Mehrheit
	        
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