Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Dritter Band. O bis Z. (3)

  
Politik 
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Wohls in dem ganz veränderten Sinn, daß diese Einsicht 
zur Deckung von Eigenwohl und Gemeinwohl führen muß. 
So überwiegt für ihn der moralische Zug die Lebenskunst. 
Die Politik als Erziehung zur Staatsgesinnung löst sich in der 
Ethik auf. Und dies Uebergewicht befestigt sich, wenn der 
Niedergang des Staatslebens in passiv gerichteten Naturen zu 
einer individualistischen Staatsauffassung zurückführt, 
die im Gegensatz ebensowohl zur Sophistik wie zu Sokrates 
den Staat und die Bürgerstellung des Einzelnen innerhalb 
des Staates negiert oder mindestens gleichgültig ignoriert. 
Dies geschieht, wenn der Schwerpunkt der Tugend als der 
Erkenntnis des wahren Eigenwohls in die Ausbildung der 
Einzelpersönlichkeit verlegt wird, um den Preis, daß sie 
sich bewußt vom Staatsleben zurückzieht. 
Gleichviel ob in diesem Sinn vie naive Selbstsucht, das ver- 
feinerte sinnliche oder geistige Genießen, gelehrt wird, wie 
im Anschluß an die sophistische Empfindungsweise von dem 
Hedonismus des Aristipp von Korene, oder die Erziehung 
zu soldstgenügsamer Leidenschaftslosigkeit des Gemüts, wie 
es der dem sokratischen Lebenserust näher stehende Kynis- 
mus des Antisthenes verlangt, — für beide Grundanschau- 
ungen verflüchtigt sich der Bürger des Gemeinwesens im 
Einzelwesen, und damit die P. in reiner Individualethik. 
6 3. Politik als Verfassungskritik. Ver- 
knüpfung mit der Geschichte. Der „beste Staat". 
Politik als Wissenschaftszweig. Uebergänge zur 
Nechtswissenschaft. Der Gedankenkreis der älte- 
sten Staatslehre ist also von Anfang an verschieb- 
bar. Je nach dem Wechsel in dem subjektiven 
Lebensideal des Denkers kann oder muß aber 
die P. auch noch andere Gedankenbeziehungen 
in sich aufnehmen. Wer das tätige Eingreifen des 
Bürgers in das Staatsleben voraussetzt, muß 
unvermeidlich auch zum Nachdenken über die Ein- 
richtungen und Gesetze des Staats geführt wer- 
den, zu ihrer Erklärung oder Beurteilung. So 
vereinigen sich schon bei den Sophisten wie bei 
Sokrates mit der moralphilosophischen Betrach- 
tung des Verhältnisses zwischen Einzelnem und 
Staat die Anfänge einer P. als Verfassungs- 
lehre und Verfassungskritik. Für 
Protagoras kam es darauf an, die Demokra-= 
tie zu rechtfertigen, die mit ihrem Gleichheits- 
prinzip die wetteifernde Energie aller gesellschaft- 
lichen Elemente entfesselt und deshalb dem Ein- 
zelnen Spielraum zum Emporkommen schafft. 
In den Augen des Sokrates erscheint auch hier 
gerade umgekehrt die Demokratie als das Ge- 
bilde, das dem egoistischen Streben als Tummel- 
vlatz für Experimente und Ausbeuterei dient. 
Der Herrschaft der Dilettanten oder ganz Unge- 
bildeten wird das Ideal der Herrschaft der weni- 
gen „Weisen“, der geistig geschulten Berufspolitiker 
in Rat, Gericht, Heeresleitung entgegengesellt. 
Mit der Lehre der staatebürgerlichen Erziehung 
verflechten sich so in Anfängen Grundsätze zur Er- 
ziehung des leitenden Staatsmanns. Zu- 
gleich ist hier der Punkt, wo sich der vom praktischen 
Standvunkt aus unternommenen Beschäftigung 
mit dem Staat verhältnismäßig am meisten eine 
zeitlich parallel gehende, ganz andersartige, näm- 
lich theoretische Staatsbetrachtung nähert, die 
geschichtliche. 
Indem die Historiker nicht den Staat als Gat- 
tungserscheinung, sondern die Staaten als 
lebendige konkrete Existenzen in ihrer 
Eigenart und Verschiedenheit schildern, werden sie durch 
Vergleich der ägyptischen, versischen, athenischen, spartani- 
schen Verfassungs= und Gesellschaftsverhaltnisse ebenfalls 
  
  
  
zu einer Kritik ihrer Mängel und Vorzüge ge führt, vor 
allem zur Kritik des demokratischen Stadtstaates, Herodot 
zu einer naiv verherrlichenden wie Protagoras, Thukydides 
ähnlich Sokrates zu einer planmäßig und obijektiov zer- 
legenden und teilweise verurteilenden. In dem ver- 
fassungskritischen Interesse und in den Ge- 
dankengängen, ohne die eine Analyse' des Staatslebens 
nicht möglich ist, nämlich den psychologischen, trifft 
die von der Ethik und die von der Geschichte aus- 
gehende P. zusammen (3. B. tatsächlich in Protagoras und 
Herodot: Menzel, Z f. P. 3, 220). Von hier aus kann die 
P. unmittelbar gesetzgeberisch verwertet werden. 
Sie liefert den Ausgangspunkt für eine Verfassungs- 
resorm zum Ausbau des denkbar „besten Staats“, 
den man sich zugleich als geläuterte Form des Staats ent- 
schwundener Blütezeiten, als na###########, denkt. 
Aber in jener Verknüpfung liegt auch noch 
ein anderes für die Staatslehre selbst höchst 
bedeutsames Moment. Denn, indem die Vorbe- 
dingungen und Wirkungen des Staatslebens auf 
die in der allgemeingültigen Anlage 
des Menschen begründeten, typischen Erschei- 
nungen des Seelenlebens zurückgeführt werden, 
z. B. von Herodot die Minderwertigkeit der 
Monarchie auf das Verführerische der Macht eines 
Einzelnen und die Gefahr des Machtmißbrauchs, 
bildet die P., die als Technik, als ein Zweig der 
Lebens--,Kunst“ entstanden ist (§ 2), Ansätze zu 
einem Wissenschaftszweig, zu einer 
angewandten Psychologie in sich aus. Indem sie 
ferner den Wert einer dauernden Ord- 
jnung für das Staatsleben erkennt, tritt sie 
  
mit den geringen Anfängen einer griechischen 
Rechtswissenschaft in Verbindung. 
8 4. Die Einfügung der Politik in die meta- 
physischen Systeme. Politik des Aristoteles. 
Dieser wissenschaftlich-systematische Charakter der 
Politik prägt sich schärfer aus, als zum Teil noch 
in der gleichen Generation, der des Sokrates, 
vorwiegend in den beiden folgenden, das Streben 
rege wird, die gegensätzlichen Moral- und Ver- 
fassungsideale dadurch zu klären und auf ihre 
Lebensfähigkeit zu erproben, daß man sie in die 
Konstruktionen des Welt gebäudes und der 
Welt ordnung eingliedert, die von der bisheri- 
gen Metaphysik entworfen worden waren. 
Dem materialistischen Bild einer Welt, die sich in zahl- 
losen wechseluden Aggregaten kleinster Grundstofse, Atome, 
verkörpert, wurde im System des philosophierenden Natur- 
sorschers Demokrit das Bild eines Staates eingepaßt, 
den sich die Einzelnen zu ihrem Schutz errichten, von dessen 
Tätigkeit und Erregungen sie sich aber, wenn sie weise sind, 
im Sinn der Zuniker (5 2) möglichst zurückhalten. Um- 
gekehrt muß die religiöse Gläubigkeit Platons, die in 
der Phantasie das Bild einer Gott entsprungenen immate- 
riellen Welt der Ideen als die vergeistigte Form, das Ur- 
bild der Stoffwelt festhält, auch die ethischen Jvealc und 
mit ihnen die politischen Ideale des Sokrates verkllären. Wie 
für Plas2on die Tugend in ihrer vornehmsten Form, in der 
Weisheit, zum mystisch-wissenden Anschauen der Welt im 
Geiste wird, übernimmt der Staat die Rolle des Erziehers 
des Einzelnen nicht nur zur Bürgertugend, sondern zu einem 
die menschliche Persönlichkeit in ihrer Ganzheit umsassenden 
religiös erhöhten Dasein. Es kann aber auch ein Drittes 
unternommen werden. Wird in einer Vereinigung des 
materialistischen und des idealistischen Hauptgedankens die 
Stoffwelt als eine Stufenleiter von niederen, höheren und 
höchsten Entwicklungsformen begriffen, die einer inneren 
Anlage solgend zur reinen Form emporstreben, so bleibt
	        
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