Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Dritter Band. O bis Z. (3)

  
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Politik 
  
in dieser kosmischen Ordnung, wie sie Aristoteles 
versucht, der Staat als Gattungsidee in der erhabenen 
Position, die ihm Platon eingeräumt hat; aber zugleich ge- 
winnt innerhalb der Kette der variierenden „Entelechien“ 
auch die Fülle der von der Realität erzeugten mehr oder 
minder unvollkommenen Typen der Einjelver fas- 
sungen Interesse. Eine Kritik der historisch gegebenen 
Staatsform Athens und Spartas, der kretischen oder der 
phönizischen Städte, die auf Grund eingehenoster archä- 
ologischer Erforschung der Genesis einer jeden sie mitein- 
ander vergleicht, greift dann mit der rationalen Ableitung 
des besten Staats aus metaphysisch-osuchologischen Vor- 
stellungen, aus dem Dogma der Beschaffenheit der Welt 
und der Menschenseele, ineinander. 
In Aristoteles gipfelt die systematische P. der 
Antike. Einerseits fußend auf der Enzyklopädie 
seiner no#######, mehr als hundertgeschichtlich-staats- 
rechtlichen Einzeldarstellungen der antiken Ver- 
fassung, andererseits anknüpfend an die großen 
Systemschriften seiner Philosophie hat Aristoteles 
die P. in der so betitelten Hauptschrift (§ 1 Abs. 3) 
als eine systematische Sonderwissenschaft sor- 
miert, als eigenartige Synthese geschichtlicher, 
juristischer, ethischer, metaphysischer Elemente. 
Obwohl sie neben dem nunmehrigen Haupt- 
zweck der Verfassungskritik, die dem 
Staatsordner das Werk der gesetzgeberi- 
schen Organisation eines Gemeinwesens vor- 
bereiten hilft, auch den pädagogischen 
Zweck im Auge behält, dem Bürger die rechte 
Auffassung von seinem Verhältnis zum Staat 
bilden zu helfen, hat sie doch von dem ur- 
  
  
sprünglichen Hauptzweck, von dem die Sophisten 
ausgegangen waren, in den Hintergrund gedrängt; 
die Lehre, wie der Einzelne zu Einfluß, der Staats- 
mann zu Macht, Beliebtheit, Einfluß gelangt, 
die Kunst der Menschen behandlung im po- 
litischen Leben tritt in der Rhetorik in ihre! 
eigenen Bege und hat in Platons Zeitgenossen 
Isokrates ihren bedeutenden Vertreter gefunden. 
Die Wucht des empirischen Materials, mit dem 
Aristoteles arbeitet, dämpft auch die sutaats- 
negierenden Lehren. Obwohl die atomistisch- 
individualistische P. des Demokrit im Zeitalter 
Alexanders als Bestandteil zweier großer Welt- 
anschauungen neu belebt wird, als Element 
der epikuräischen und der stoischen 
Ethik, deren eine zugleich das Lebensideal des 
Aristipp, die andere das des Antisthenes in sich 
aufmmmt, und obwohl die neue Genußpyhilo- 
sophic konsequent den staatlichen Zusammenschluß 
als überflüssig, die neue Lehre der Resignation 
ihn mindestens als etwas für die Ausbildung der 
gefestigten Einzelpersönlichkeit nebensächliches be- 
zeichnen muß, lehren sie doch beide für ihre An- 
hänger die Pflicht, sich dem Staat, wenn seine 
Regierung selbst eine gute, sittliche ist, unterzu- 
ordnen. Nur die historisch-juristische 
Betrachtung der einzelnen Staa- 
ten ist unter ihrem Einfluß rasch wieder ver- 
kümmert. Das Aufkommen des Staatstypus der 
Alexander= und Diadochenzeit, der territorialen 
Militär= und Beamtenmonarchie, die den Ge- 
bildeten vom Staatsleben fernhält, bescitigt die 
gause Atmosphäre, die die P. seinerzeit hervor- 
getrieben hatte. 
§& 5. Schwäche und innere Begrenztheit der 
antiken Politik. Schon unter der Hand dieser glän- 
zenden Schöpfer der antiken P. zeigt sich also das 
  
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Schwankende und Vieldeutige der neuen Wissen- 
schaft. Ihre Schwäche wird offenbar, wenn die 
Denker ihre Lehre auf die staatlichen und verfas- 
sungsrechtlichen Bedürfnisse des realen Lebens 
anwenden möchten. Sie werden hin und herge- 
zogen zwischen dem Glauben an scheinbar kosmisch 
oder ethisch bedingte Ideen vom besten Staat 
und der nüchternen Erfahrung, die in der Praxis 
an den historisch gewordenen Einrichtungen hier 
oder da gemacht worden sind, — weiter auch 
zwischen dem Vertrauen auf den Wert bleibender 
„Gesetze“, d. h. der festen Rechtsordnung des 
Staats und der Erwartung, die man von der 
persönlichen Handhabung der Regierung durch 
den leitenden Staatsmann und von der Auf- 
fassung der Bürger von ihren Pflichten hegen 
darf. In der Vermengung der verschiedenen 
Vorstellungskreise, der dogmatischen und der 
historischen P., der Staatslehre und der Staats- 
kunst, verlieren sie entweder die Witterung für 
das politische Gebot des Tages, — so vor allem 
Aristoteles — oder sie geben unter dem Zwang 
der politischen Lage die Fühlung mit ihren 
Doktrinen auf und folgen gefühls= und triebmäßig 
dem Zug der ohnehin herrschend gewordenen 
realen Mächte ihrer Umgebung. 
Auf solchem Wege können, mitgerissen von der Zersetzung 
und gewaltsamen Umbildung der griechischen Welt, die 
Denker aus einem und demselben System in ihrem prak- 
tischen Idcale stark wechseln, und andererseits können ver- 
schicdene Soysteme schließlich auf ein und dasselbe reale 
Programm hinauslaufen. Platon, der in den Jahren seiner 
Reise seine theologische und pryychologische Konstruktion 
mit dem Ideal einer Wiederberstellung der Zarg##og 
TOMæSiA der solonischen Zeit, der vergeistigten Form des 
spartanischen Kleinstaats aristokratischen Gepräges, als 
Herrschaft der ### zusammengestimmt hatte, läßt 
sich auf seinen Reisen je länger je mehr von der Großstaat- 
Tyrannis des Dionysius von Sizilien beeinflussen und 
deutet den „Philosophen“ auf den einen höchstgebildeten, 
aber auch von den Gesetzen nicht beengten, starken Herrscher, 
auf einen Fürsten des aufsgeklärten Absolutismus um. 
Genau auf das gleiche läuft aber mit der Zeit die volitische 
Erziehungslehre der Zyniker und ihrer Nachfolger, der 
Stoiker, hinaus. Auch sie schieben ihr Menschen-Zdeal des 
unerschütterten, zur Seelenharmonie sich durchringenden 
Philosophen dem Bild des Fürsten unter und gelangen 
zu dem Iveal des za####sg 85 vn, der frei von Lei- 
denschaft, aber mit unumschränkter Gewalt, ja mit göttlicher 
Weihe das Volk lenkt und beglückt, ein Staatshaupt, das 
annähernd in den Nachfolgern Alexanders, Ptolemäern 
oder Antigoniden, nunmehr auch im Csten, verwirklicht 
wird. (Eouard Schwart, Hekatäos v. Teos, Rhein. Mu- 
seum 40, 256). Hier zeigt sich recht deutlich, wie sich eine 
philosophische Konstruktion, die ursprünglich ersonnen wor- 
den ist, um die Souveränität der Einzelpersönlichkeit des 
Bürgers gegenüber dem Staate zu rechtisertigen, je 
nach Bedarf auch verwenden läßt, um in der Er- 
hohung der Persönlichkeit des Herrschers die gerade 
entgegengesetzte, höchst autoritaristische Staatsauffassung 
zu begründen. Aber es ist bezeichnend, daß sich daneben 
— unod zwar aus denselben entgegengesetzten Systemen — 
auch ganz andere politische Ivcale bilden können. Schon 
bei einem nahen Schüler des Aristoteles, bei Dikäarch, be- 
geanet das „Schema“ der no###### #un der aus 
monarchischen, aristokratischen und demokratischen Ele- 
menten „gemischten“ Staatssorm, die durch Versöhnung aller 
Gegensatze die dauerhafteste Staatsform abaibt. Aber auch 
diese Idee wird zugleich von stoischer Seite vertreten, und
	        
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