§ 54. Der Weg der Gesetzgebung. 173
1. Die Feststellung des Gesetzesinhalts zerfällt in zwei Stadien, den Gesetzes-
vorschlag und die Annahme desselben durch die Faktoren der Gesetzgebung.
Das Recht, Gesetze vorzuschlagen, stand nach der V. U. von 1819 ausschließlich
dem Könige zu. Seit dem V.G. von 1874 (Art. 6) ist dieses Recht auch jeder der
beiden Kammern eingeräumt. Nur Gesetzesentwürfe über Auferlegung von Steuern, über
die Aufnahme von Darlehen, über die Feststellung des Staatshaushaltes oder über außer-
ordentliche, im Etat nicht vorgesehene Ausgaben sind der Initiative der Stände entzogen.
(S. o. S. 85.) Gesetzesvorschläge der Regierung müssen vor ihrer Einbringung durch das
Staatsministerium bezw. auch durch den Geheimen Rath vorberathen werden (s. o. S. 126 u.
134) und bedürfen stets der Kontrasignatur eines Ministers. Die Mittheilung dieser Gesetzes-
vorschläge an die Stände erfolgt durch das Staatsministerium, nur das Etatsgesetz ist nach
§ 111 der V. U. durch den Finanzminister einzubringen. Abgesehen von den Abgabe-
gesetzen, welche immer zuerst der Kammer der Abgeordneten vorgelegt werden müssen (s. o.
S. 85), hängt es von der Wahl der Regierung ab, bei welcher Kammer sie einen Entwurf
zuerst einbringen will. Gesetzesvorschläge, welche von Ständemitgliedern ausgehen, müssen
in der Ersten Kammer von mindestens fünf, in der Zweiten von mindestens fünfzehn
Mitgliedern unterzeichnet sein. Soweit den Ständen das Recht der Initiative zusteht, sind
dieselben auch in Beziehung auf die Abänderung einer Regierungsvorlage nicht beschränkt ¹).
Ueber die Berathung der Gesetzesvorschläge in der Ständeversammlung, insbesondere
die Vorberathung in einer Kommission s. o. § 32. Kommt zwischen beiden Kammern
eine Vereinigung über den Inhalt eines Gesetzesvorschlags zu Stande, so wird dies dem
König in gemeinsamer Adresse durch Vermittelung des Staatsministeriums angezeigt.
Der von der einen Kammer verworfene Vorschlag der anderen Kammer kann auf dem-
selben Landtage nicht wiederholt werden (V. U. § 183); die Regierung dagegen ist nicht
gehindert, nach Verwerfung einer Vorlage noch in derselben Session einen neuen Entwurf
desselben Inhalts einzubringen. Ueber die Finanzgesetze insbesondere s. § 21 III. und
§§ 65 u. 66.
2. Die Sanktion besteht in dem Befehle des Staatsoberhauptes, daß der mit
den Ständen festgestellte Inhalt des Entwurfes Gesetz sein soll. Dieselbe ist hiernach eine
Willenserklärung des Königs, welche als solche einer sinnlich wahrnehmbaren Beurkundung
der sog. Ausfertigung bedarf, durch welche der Wille des Gesetzgebers in die Erscheinung
tritt. Die Ausfertigung und die Sanktion bilden hiernach in Württemberg nicht zwei
verschiedene Stadien, sondern einen und denselben staatsrechtlichen Akt. Zum Zwecke der
Sanktion hat das Staatsministerium die ihm übermittelten ständischen Beschlüsse dem
Könige mit seinem auf die Verfassung begründeten Gutachten vorzulegen (V. U. § 126);
s. im Uebrigen oben S. 72 u. S. 126 u. 134 f.
3. Die Verkündung erfolgt auf den in der Sanktion enthaltenen Befehl des
Königs unter der ausdrücklichen Beifügung der vorgängigen Vernehmung des Staats-
ministeriums und der erfolgten Zustimmung der Siände, sowie unter der Kontrasignatur
des oder der bei der Erlassung des Gesetzes betheiligten Ressortminister ²). Für die Ver-
kündung ist so wenig als für die Sanktion eine Frist vorgeschrieben. Hierüber wie über
Art und Weise der Verkündung s. o. S. 72.
4. Die Wirkung des Gesetzes besteht darin, daß ein in Gesetzesform erlassener
Befehl allen abweichenden früheren Anordnungen, mögen sie mit Gesetzeskraft ausgestattet
1) Anders war es früher; s. Mohl, I S. 618, 622; unrichtig Bitzer S. 263.
2) Neuerdings sämmtlicher Minister, welche im Staatsministerium bei dem Gesetze mit-
gewirkt haben; das Nähere hierüber s. o. S. 71, 136 und bezüglich der Kontrasignatur des Kabinets-
sekretärs S. 64.