10 Erster Abschnitt: Geschichtliche Einleitung. VI. § 1.
löste der König die Versammlung am 4. Juni 1817 auf und erklärte am 5. Juni, daß wenn die
Mehrzahl des Volkes durch die Amtsversammlungen oder durch die Magistrate sich für die Annahme
der Regierungsvorschläge aussprechen sollte, der König seinerseits den Verfassungsvertrag als ab-
geschlossen ansehen und in Wirksamkeit setzen würde. Auch dieses Auskunftsmittel schlug jedoch fehl,
indem die Zustimmungserklärungen nur theilweise einkamen ¹). Um jedoch das Volk in den Genuß
der in dem Verfassungsentwurfe zugesicherten Rechte, soweit sich solche nicht auf die Repräsentation
bezogen, sofort einzusetzen, wurden von dem König am 18. November 1817 elf Edikte erlassen,
durch welche u. A. die Leibeigenschaft und der Erblehensverband aufgehoben und die gesammte
Staatsverwaltung neu organisirt wurde.
Inzwischen war in Wien die deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815 zum Abschluß gebracht
worden, welcher Württemberg erst am 1. September 1815 nachträglich beitrat; die Karlsbader
Ministerialkonferenzen (6.—31. August 1819) standen in Sicht ²). Der Aufschub, welchen die Er-
ledigung des Verfassungswerkes durch die Hartnäckigkeit der an ihrem „alten Recht“ festhaltenden
Stände erfahren, hatte die Folge, daß dasselbe nunmehr unter der eingetretenen rückläufigen,
dem Repräsentativsystem feindlichen Strömung zum Abschluß gebracht werden mußtes ³). Auf
den 13. Juli 1819 wurde eine neue verfassungberathende Ständeversammlung — diesmal aber
nicht nach Stuttgart sondern nach Ludwigsburg ⁴) — berufen. Dieselbe war zusammengesetzt wie
im Jahre 1815, nur mit Hinweglassung der Kronerbbeamten, dagegen unter Beiziehung von zwei
evangelischen Generalsuperintendenten, des Verwesers des Generalvikariats zu Rottenburg, des ältesten
katholischen Dekans und des Vicekanzlers der Universität. Nach dem Vorschlage der Regierung
wählte die Versammlung sofort sieben Kommissäre, welche mit den königlichen Kommissären einen
neuen gemeinsamen Verfassungsentwurf ausarbeiteten. Dieser wurde dann als „Proposition“ den
Berathungen der Ständeversammlung nach vorgängiger Berichterstattung durch eine ständische Kom-
mission zu Grunde gelegt. Am 6. September 1819 begannen die Verhandlungen in der Versamm-
lung selbst und waren bereits am 18. beendigt. Am 22. September erfolgte hierauf die königliche
Entschließung mit Billigung eines großen Theils der gestellten Anträge. Auf Grund dieser Ent-
schließung nahmen dann die Stände den Verfassungsentwurf, wie er jetzt vorlag, unverändert an,
worauf am 25. September von dem König und der Versammlung die neue Verfassungsurkunde
unter Auswechslung der beiderseitigen Exemplare feierlich unterzeichnet wurde.
Unmittelbar zuvor, am 20. September, hatte Württemberg in Frankfurt den Karlsbader
Beschlüssen zugestimmt, welche mit den §§ 24 und 28 der neuen Verfassung und mit dem Preß-
gesetze vom 30. Januar 1817 in direktem Widerspruch standen und sofort wenige Tage nach der
am 27. September erfolgten Publikation der Verfassung — am 1. Oktober im Regierungsblatt
verkündet wurden ⁵).
VI. Seit dem Jahre 1819 blieb zunächst bis 1849 die Verfassungsurkunde als die Grund-
lage des öffentlichen Rechtszustandes in unveränderter Geltung. Eine Aenderung trat erst ein in
Folge der mit einem Einführungsgesetze am 28./31. Dez. 1848 erfolgten Verkündigung der von der
Frankfurter Nationalversammlung beschlossenen sog. Grundrechte des deutschen Volkes vom
27. Dezember 1848. Derjenige Theil dieser Grundrechte, welcher sofort in's Leben treten sollte, erhielt
mit dem 17. Januar 1849 für Württemberg verbindende Kraft ⁶). Um dagegen die durch die Ab-
schaffung der Standesvorrechte nothwendig gewordene Aenderung der Verfassung herbeizuführen,
wurde in Uebereinstimmung mit dem angeführten Einführungsgesetze durch ein Gesetz vom 1. Juli
1849 eine Versammlung von Vertretern des Volkes zur Berathung einer Revision der Verfassung
berufen. Die Regierung wollte die Versammlung auf diese Aufgabe beschränkt wissen. Die staats-
rechtliche Kommission der Abgeordnetenkammer ging jedoch davon aus, daß nach dem Einf.-Gesetz
zu den Grundrechten die neu zu wählende Landesversammlung auf so lange, bis die von
S. 43, Not. 1 ff. angeführte Litteratur u. Treitschke, Hist. u. pol. Aufs. 1865, S. 214 ff.
Hegel , verm. Schriften 1 S. 219 ff. und Briefwechsel II S. 16.
1) Vgl. Fricker und Geßler a. a. O. S. 217 ff.
2) Vgl. auch Reyscher a. a. O. S. 105.
3) Nassau (3./4. Nov. 1815), Sachsen- Weimar (5. Mai 1816), Bayern (26. Mai
1818), Baden (22. August 1818) waren Württemberg mit ihren Verfassungen zuvorgekommen.
4) Im wesentlichen aus denselben Gründen, welche 1849 für die Verlegung der Parlamente
aus Berlin und Wien maßgebend waren.
5) Vgl. über das Vorstehende Fricker, die V. U. für das Königreich Württemberg (1865)
S. 93—634. Fricker und Geßler, Verf- Gesch. S. 152 ff., Reyscher a. a. O. S. 104 ff. —
Neben dem Texte der V. U. beruhen nur die Ueberschriften der Kapitel auf Verabschiedung; die
in den Ausgaben enthaltenen Ueberschriften der Paragraphen dagegen sind Privatarbeit. Ueber die
Einwirkung der V. U. auf das bisherige Recht s. Fricker in der Tübinger Z. f. St. W., B. 43 S. 4 ff.
6) Vgl. die Verf. sämmtlicher Ministerien v. 14. Jan. 1849.