§ 1. Geschichtliche Einleitung. VI. 11
ihr zu schaffende Landesvertretung in Wirksamkeit getreten, in die
Befugnisse der bisherigen Landesvertretung einzutreten habe. Ent-
sprechend wurden dann die Art. 1 und 2 des Gesetzes abgefaßt. Die Landesversammlung war zu-
sammengesetzt aus 64 Abgeordneten der Oberamtsbezirke, die von allen volljährigen in Württem-
berg wohnhaften Staatsbürgern, welche im laufenden und in dem der Wahl vorausgegangenen
Finanzjahr irgend eine direkte Staatssteuer entrichtet hatten, gewählt wurden. Die erste Landes-
versammlung wurde am 1. Dezember 1849 eröffnet und sprach sich sofort über die Frage, ob das Ge-
setz vom 1. Juli 1849 die Form der Landesvertretung auch für den Fall der Nichteinigung über eine
Verfassungsrevision festgestellt habe, mit 53 gegen 6 Stimmen dahin aus, daß die durch die Verfassung
von 1819 festgesetzte Landesvertretung nach den angeführten Artikeln für immer aufgehoben sei.
Nach Auflösung dieser Versammlung am 22. Dezember 1849 wurde eine zweite Landes-
versammlung auf den 15. März 1850 einberufen. Auch diese Versammlung, welche gegen den
provisorischen Departementschef der auswärtigen Angelegenheiten wegen des Beitritts zu den beiden
Verträgen vom 30. September 1849 (betreffend die Einsetzung einer Bundescentralkommission, des
sog. Interim), und vom 27. Februar 1850 (Uebereinkunft mit Bayern und Sachsen über die Grund-
züge einer künftigen deutschen Verfassung) auf Grund des § 85 der V. U. Staatsanklage erhoben
hatte, wurde aufgelöst, ebenso die dritte, welche auf den 15. Oktober 1850 einberufen worden war.
Gleichzeitig mit dieser letzten Auflösung wurde mittelst königl. Verordnung vom 6. November 1850
auch das Gesetz vom 1. Juli 1849 selbst beseitigt und der Zustand vor diesem Gesetze wieder her-
gestellt und zwar auf Grund des § 89 der V. U. (also durch sog. Nothverordnung). Der von der
Landesversammlung verfassungsgemäß unmittelbar nach der Auflösung neugewählte Ausschuß wurde
aufgelöst und an seine Stelle der ältere, im Jahr 1849 noch nach der Verfassung vom Jahr 1819
gewählte ständische Ausschuß berufen. Als dieser aber nicht zu Stande kam, wurde durch eine
königl. Verordnung vom 26. November 1850, wieder auf Grund jenes § 89 der V. U., eine provi-
sorische Staatsschulden-Verwaltungskommission zur Aufsicht über die nach der V. U. unter dem Aus-
schuß stehende Staatsschuldenzahlungskasse niedergesetzt. Die Grundrechte wurden in Folge des
Bundesbeschlusses vom 23. August 1851 durch Verordnung vom 5. Oktober 1851 aufgehoben und
nur die seit der Min-Verf. vom 14. Januar 1849 angewandten Vorschriften in Betreff der Rechts-
verhältnisse der Israeliten im Weg der Verordnung (auf Grund des § 89 der V. U.) vorerst in
Geltung erhalten. Da jedoch die Kammer der Abgeordneten, nachdem die Stände wiederum gemäß
der Verfassung von 1819 einberufen worden, sich am 28. Juni 1851 und dann am 26. Februar 1852
für die fortdauernde verbindliche Kraft der Grundrechte als Landesgesetz aussprach, wurde durch ein
besonderes Gesetz vom 2. April 1852 bestimmt, daß den so betitelten Grundrechten des deutschen
Volks auch die verbindliche Kraft eines Landesgesetzes, soweit nicht einzelne Bestimmungen derselben
in besonderen Gesetzen zur Ausführung gebracht worden, nicht beigelegt werden soll.
Seit dem 6. November 1850 beruht hiernach der öffentlichrechtliche Zustand des Landes,
soweit es sich um die Organisation der Ständeversammlung handelt (Kap. IX der V. U.), nicht
sowohl auf dem Verfassungsvertrage von 1819, als vielmehr auf jener einseitigen königl. Verordnung,
wenn auch seit 1868 eine Reihe neuer Verfassungsgesetze, welche jedoch sämmtlich auf der durch jene
Verordnung geschaffenen staatsrechtlichen Grundlage beruhen, auf dem vorhandenen thatsächlichen Zu-
stand fortgebaut hat ¹).
Sieht man von der angeführten, durch die sog. Grundrechte veranlaßten, ephemeren Gesetz-
gebung, und von dem nach Beseitigung der Konvention mit dem päßpstlichen Stuhl erlassenen Kirchen-
gesetze vom 30. Januar 1862 und dem damit zusammenhängenden Gesetze vom 31. Dezember 1861
betr. die Unabhängigstellung der staatsbürgerlichen Rechte vom religiösen Bekenntnisse ab, so gelang
es — trotz mancher auch nach 1851 hervorgetretener parlamentarischer Bestrebungen ²) — im Laufe
der Jahre nicht, auch nur zu einer theilweisen Revision der in so vielen Beziehungen der Abänderung
bedürftigen Verfassung zu gelangen, bis endlich in Folge der Gründung des norddeutschen Bun-
des und nachher des Eintritts in das Deutsche Reich auch in Württemberg die Nothwendigkeit
erkannt wurde, die staatsrechtlichen Verhältnisse des Landes mit den Zuständen im Reich einigermaßen
in Einklang zu bringen. Die nächste Konsequenz der neuen politischen Lage, die Vereinfachung des
schwerfälligen, mit der jetzigen beschränkten Bedeutung der Landesgesetzgebung in keinem Verhältnisse
stehenden ständischen Apparats hat man allerdings bis jetzt zu ziehen sich nicht entschließen können ³).
1) S. auch unten § 20 und Fricker und Geßler a. a. O. S. 260 f. 274 f., Reyscher,
drei Verfassung berathende Landesvers. Tübingen 1851 und Ders., Erinnerungen ꝛc. S. 178ff.
3 Vgl. Schott, Die Versuche einer Verf.-Revision in Württemberg. Ulm 1890.
3) Der neueste (1894), im Wesentlichen auf die Kräftigung der I. Kammer abzielende Entwurf einer
Revision des 9. Kap. der V. U. wurde von der Staatsregierung als aussichtslos wieder zurückgezogen.